„Es wird eine absolute Katastrophe“, sagte Jean-Claude Juncker im Dezember über den Brexit. Der Präsident der Europäischen Kommission hat sich geirrt. Der Abschied Großbritanniens aus der EU verläuft schon jetzt katastrophal
Nachverhandeln oder No Deal?
Anfang Januar legte Premierministerin Theresa May dem britischen Parlament einen Austrittsvertrag vor. Diesen wollte das Unterhaus nicht annehmen. Europa geriet in Panik, das Vereinigte Königreich werde die EU ohne ein Abkommen über seine künftigen Beziehungen mit dem Staatenbund verlassen.
Zwei Wochen darauf erklärten die Parlamentarier, sie wollten zwar keinen ungeordneten Brexit, Mays Deal mit Brüssel aber nachverhandeln. Das lehnte Juncker ab. Die Gefahr eines chaotischen Brexits war Mitte Februar nicht vom Tisch – eine Katastrophe für Unternehmen.
Keine Vorbereitung auf Brexit möglich
Sie können sich auch sechs Wochen vor dem geplanten Austrittstermin am 29. März nicht auf die Zeit danach vorbereiten. „So lange ein ungeordneter Brexit nicht vom Tisch ist, müssen sie befürchten, dass eine so komplexe Situation entsteht, dass sie sich unmöglich für alle Eventualitäten wappnen können“, erklärt der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), Utz Tillmann.
„Sich auf eine Vielzahl von Szenarien vorzubereiten, von denen nur eines eintritt, kostet die Unternehmen häufig zu viel“, bestätigt Dr. Ulrich Hoppe, Hauptgeschäftsführer der Auslandshandelskammer (AHK) in London.
Spezielle Chemikalien kommen aus Großbritannien
Das trifft wie jede andere Branche auch die chemische Industrie. Ihr bereitet der Brexit jedoch zusätzliche Probleme, die andere Wirtschaftszweige nicht haben. Deutsche Chemieunternehmen decken Zahlen des VCI zufolge zwar nur 4,8 Prozent ihres Bedarfs in Großbritannien. Etwa 6,5 Milliarden Euro gaben sie dort 2017 vor allem für Polymere und Feinchemikalien aus – Stoffe, die sich aus anderen Bezugsquellen oft nicht beschaffen lassen.
„Dieselbe Chemikalien hat nicht zwingend übereinstimmende Eigenschaften, wenn sie unterschiedliche Hersteller produzieren“, erklärt VCI-Chef Tillmann. „Außerdem benötigen die Unternehmen Chemikalien für verschiedene Anwendungen und haben hierfür mit ihren Zulieferern komplexe Lieferketten aufgebaut.“ Beauftragen Einkäufer einen neuen Lieferanten, müssen sie auch die Logistik mit viel Aufwand neu aufstellen.
Chemikalien ohne Registrierung und Zulassung?
Da sich die chemischen Industrie somit kaum aus Großbritannien zurückziehen kann, importierte sie im ersten Halbjahr 2018 nur 5,5 Prozent weniger Stoffe von dort als im Vorjahreszeitraum, so der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik. Gleichzeitig jedoch verlieren in Großbritannien produzierte Stoffe bei einem ungeordneten Brexit ihre von der EU-Chemikalien-Verordnung REACH vorgeschriebene Registrierung und Zulassung.
Ein Austrittsabkommen wird zwar Übergangsregelungen enthalten. „Im Fall eines ungeordneten Brexit jedoch dürften chemische Stoffe, die im Vereinigten Königreich für den Vertrieb in der EU registriert wurden, nicht weiter in der EU verkauft werden“, befürchtet Tillmann.
Lange Antragszeiten bei der ECHA für Importe
Wer Chemikalien aus dem Vereinigten Königreich einführt, kann diese zwar als Importeur registrieren und sich um die Zulassung bemühen. Die zuständige Europäische Chemikalienagentur, ECHA, darf sich jedoch bis zu sechs Wochen Zeit lassen, bis sie einen Antrag bearbeitet.
Registrierung und Zulassung können auch von britischen Lieferanten bestellte Vertreter übernehmen, wenn sie ihren Sitz in der EU haben. Ob Zulieferer ihren Kunden diesen Aufwand abnehmen, müssen Einkäufer jedoch mit ihnen aushandeln und in Ergänzungen bestehender Verträge vereinbaren.
Lange Wartezeiten an den Grenzen
Selbst wenn dies noch vor dem Brexit gelingt, können sie nicht davon ausgehen, dass ihre Lieferkette danach reibungslos weiterläuft. Rund die Hälfte der zwischen der EU und Großbritannien gehandelten Waren bringen Lkw und Fähren über die Häfen in Dover und Holyhead sowie den Eurotunnel auf den Kontinent, hat der Bundesverband der Deutschen Industrie berechnet.
Bislang fertigen die Zöllner Lkw dort in zwei Minuten ab. Nach dem Brexit könnte dies bis zu 20 Minuten dauern. Kilometerlange Staus wären die Folge. Lieferungen kämen in deutschen Unternehmen nicht mehr pünktlich an.
Keine funktionierende Zollverwaltung
„Da Großbritannien noch keine funktionierende Zollverwaltung hat, stellen wir uns darauf ein, dass es nach dem Austritt mehrere Wochen, vielleicht sogar Monate Chaos an den Grenzen gibt“, sagt Thomas Zwerger, kaufmännischer Leiter der DELO Industrie Klebstoffe aus Windach in Oberbayern. „Deshalb haben wir für die Rohstoffe, die wir in Großbritannien kaufen, eine Bewertung vorgenommen.“
Wo möglich, hat der Mittelständler mit 770 Mitarbeitern dabei alternative Bezugsquellen gesucht. Gab es die nicht, wollten die Einkäufer bei DELO wissen, ob ihre britischen Lieferanten Lager in der EU unterhalten, oder erhöhten ihre eigenen Bestände. Diese reichen nun mehrere Monate länger, als es bei dem Klebstoffspezialisten ohnehin der Fall ist.
„Liefersicherheit hat bei uns einen sehr hohen Stellenwert“, versichert Zwerger. „Deshalb halten wir grundsätzlich strategische Lagerbestände für drei Monate, bei Stoffen, für die wir nur einen Lieferanten haben, auch für ein bis zwei Jahre vor.“
Chemieriesen verlagern Funktionen weg aus Großbritannien
Großunternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie haben im Vorfeld des Brexit auch Funktionen aus Großbritannien nach Amsterdam, Paris oder Frankfurt verlegt, beobachtet Dr. Dirk Friederich, Geschäftsführender Partner und Spezialist für die Chemie- und Pharmaindustrie bei der Unternehmens- und Personalberatung Boyden.
Im Zuge dieser Verlagerungen ordnen die Konzerne oft auch ihre Supply Chains neu. „Dieser Trend wird zwar durch den steigenden Kostendruck und die Digitalisierung angetrieben“, weiß Friederich. Der Brexit habe ihn aber erheblich beschleunigt.
Seit gut einem halben Jahr stelle er fest, dass Unternehmen im Zuge der Verlagerung ihrer Europazentralen zunehmend auch Spezialisten suchen, die die komplexen Lieferketten der chemischen Industrie flexibel managen können.
Reicht die Übergangsphase bei einem Deal?
Diese Flexibilität brauchen Unternehmen unabhängig davon, ob Großbritannien mit oder ohne Abkommen aus der EU austritt. „Selbst wenn das Vereinigte Königreich die EU jetzt mit einem Deal verlässt, regelt dieser nicht die künftigen Beziehungen zwischen London und Brüssel“, erklärt AHK-Chef Hoppe.
Er befürchtet, dass die im vorliegenden Austrittsvertrag vereinbarte Übergangsphase von zwei Jahren nicht reicht, um eine Einigung über die künftigen Beziehungen zwischen dem Staatenbund und dem Königreich zu erzielen.
Beziehungen zu britischen Lieferanten nicht abreißen lassen!
„Deshalb ist es umso wichtiger, dass Einkäufer ihre Beziehungen zu britischen Lieferanten jetzt nicht abreißen lassen, sondern diese pflegen und vertiefen“, rät John Dowling. Der Ire ist Principal und Experte für internationale Industriethemen bei der Einkaufsberatung Inverto.
Wenn Unternehmer miteinander sprechen, obwohl es Politiker nicht mehr können, würden Partnerschaften durch einen Trip auf die Insel und ein Abendessen mit dem Management des britischen Lieferanten vertrauensvoller und belastbarer für die Zeit nach dem Brexit – egal, wie dieser über die Bühne geht.