Stilisierte Gaspipeline mit deutscher und russischer Flagge drauf

Als Russland den Gashahn abdrehte, wurde die Versorgungslage für Industrie­betriebe besorgniserregend. (Bild: PX Media - stock.adobe.com)

Parallel zur Sicherheitsplattform Gas ging zum 1. Oktober 2022 das Gas-Regelenergieprodukt Load Reduction (LRD) an den Start. Der Marktgebietsverantwortliche – die THE GmbH – stellt eine Plattform für Gas-Ausschreibungen zur Verfügung und regelt die Zulassung der Anbieter. Seit 15. September konnten Bilanzkreisverantwortliche, die sich als Regelenergieanbieter für das LRD-Produkt präqualifiziert haben, über das Balancing Services Portal bereits Mengenangebote einstellen.

Die Mindestleistung beträgt 1 MWh/h, die maximale Losgröße liegt bei 1.000 MWh/h. Vorlaufzeit und Preismodell sind vom Anbieter frei wählbar. Der Abruf von Angeboten ist seit 1. Oktober möglich. Bisher (Stand 13.10.2022) seien noch keine Angebote eingestellt worden, hieß es nach unserer Anfrage bei der Bundesnetzagentur. Bei diesem Modell handelt es sich um keine klassische Auktion. THE tritt hier als kurzfristiger Käufer von Gasmengen auf (System Buy). Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller betonte im Juli im Handelsblatt: Das Modell sei ein niedrigschwelliges Angebot und „natürlich kein Allheilmittel“, weil es nicht dazu diene, strukturelle Einsparungen anzureizen. Es könne aber helfen, bevor Staat oder Netzagentur eingreifen müssten. Kritiker warnen indes vor den Folgen.

Lukrativ: Gas verkaufen

So manch großer Gasverbraucher hat nämlich längst festgestellt, dass sich über Gasverkauf (zwischen Erzeugern oder via Börse) auf kurze Sicht mehr Geld verdienen lässt als mit seinen Traditionsprodukten. Angesichts exorbitanter Gaspreise sei ein solch neues Geschäftsmodell kein Geheimtipp mehr, wie die Bonner Wirtschaftsakademie (BWA) in Stichproben festgestellt hat. Problem: „Wenn Unternehmen ihre Produktion drosseln oder einstellen und stattdessen ihr Gas verkaufen, mag das zwar ein individuell sinnvolles Rettungsmodell sein, allerdings eines mit überschaubarer Halbwertzeit bei enormen volkswirtschaftlichen Nebenwirkungen“, so Stefan Ziermann, Chefredakteur des Infodienstes Fuchsbriefe aus Berlin.

Sicherheitsplattform Gas

Größere Industriebetriebe und Gashändler sind gefordert: Bilanzkreisverantwortliche und Letztverbraucher mit einer technischen Anschlusskapazität von mindestens 10 MWh/h sind gemäß § 1a Abs. 2 GasSV verpflichtet, sich auf der neuen Sicherheitsplattform Gas zu registrieren. Ziel ist, im Krisenfall industrielle Gasverbräuche gezielt zu reduzieren und die Gaszufuhr effektiv staatlich zuzuteilen.

Die Trading Hub Europe GmbH stellt mit der Sicherheitsplattform Gas das digitale System bereit. Die Bundesnetzagentur hat damit in ihrer Rolle als Bundeslastverteiler die Möglichkeit, Marktteilnehmer zu kontaktieren und Entscheidungen über erforderliche Versorgungsreduktionen im Krisenfall zu treffen.

Auch Thomas Mademann, Geschäftsführer der GMVK Procurement Group, hält ein solches Agieren für fatal: „Praktische Relevanz hat das Thema zwar für Unternehmen, die sich frühzeitig mit Gas, etwa über Tranchen-Beschaffungen, eingedeckt haben. Sofern diese jetzt die Chance sehen, weniger Gas zu verbrauchen, Gas durch alternative Energieträger zu ersetzen oder freiwillig die Produktion einzustellen, weil der Absatz wegen hoher Energiepreise stockt, dann können sie durch verauktionierte Gasmengen Sondererlöse erzielen. Wenn dann aber zugunsten des Gasverkaufs wichtige Zwischenprodukte – beispielsweise Ammoniak, Ammoniakwasser (AdBlue), Düngemittel – nicht mehr auf den Markt kommen, geraten vor- und nachgelagerte Industriekunden und Lieferanten in noch größere Schieflage.“

Die so ungewollt erzeugte zunehmende Knappheit an Gütern treibe die Inflation an, und gehäufte Einstellung der Produktion käme einer „volkswirtschaftlich nationalen Katastrophe“ gleich, warnt BWA-Chef Harald Müller. „Die Sache geht betriebswirtschaftlich nur so lange gut, wie die Gasversorgungsverträge tatsächlich erfüllt werden. Sobald kein Gas mehr ankommt, platzt die Blase. Viele Betriebe werden in die Insolvenz getrieben.“

Gerd Hofmann, ehemals Einkaufschef bei Hugo Boss, Jungheinrich, Odelo, Krauss Maffei, Grob und heute Berater für Transformation, Einkauf und SCM, hält das neue staatliche Regelenergieprodukt für „einen zusätzlichen unsinnigen Digitaltiger“. Gas werde hierüber nicht strukturell eingespart, sondern nur umverteilt. „Wenn ertragsschwache Unternehmen, etwa Gießereien, Gas an profitablere Unternehmen verkaufen und selbst dichtmachen, fehlen Gussteile, zum Beispiel für den Bau von Windrädern. Gasauktionen können zu grandioser Fehlallokation führen.“ Und: Bei einer Mindestgebotsgröße von 1 MWh seien ohnehin viele kleinere Unternehmen raus.

Prof. Dr. Friedhelm Schlösser, Geschäftsführer der Schwank GmbH in Köln, räumt ein, dass das Auktionsmodell zumindest „ein wenig“ helfen könne. Das Konstrukt sei aber letzten Endes ein „eleganter Versuch des Wirtschaftsministeriums beziehungsweise der Bundesnetzagentur, sich vor gesetzlich verankerter Verantwortung zu drücken“. Aufgabe sei, Prioritäten bei Kontingentierung und Zuteilung aus dem Gasnetz eindeutig festzulegen. So aber müsse man keine Rechenschaft ablegen.

Alternativen – weg vom Gas

Papierhersteller Feldmühle (Uetersen) hatte im August angekündigt, die Dampferzeugung im 4. Quartal 2022 kurzfristig auf leichtes Heizöl umzustellen. Die Investi­tion von 2,6 Millionen Euro soll durch einen außerordentlichen Gesellschafterbeitrag finanziert werden. Mittel- bis Langfristig will man „konsequent den Plan weiterverfolgen, den Standort CO2-neutral aufzustellen“. Dabei soll unter anderem der Einsatz von Windenergie, Solarenergie und Geothermie eine tragende Rolle spielen.

Der mit Abstand größte Abnehmer von Erdgas ist die Chemische Industrie. In vielen Bereichen haben sich die Unternehmen auch dort mit leichtem Heizöl bevorratet, um über Dampfreformation Wasserstoff als Ausgangsprodukt für Ammoniak (Düngemittel) und Kunststoffe zu nutzen. „Für die aktuelle Sondersituation ist man dort für ein Jahr von Restriktionen im Hinblick auf Emissionen befreit“, sagt Friedhelm Schlösser. Beispiel sei der Chempark Dormagen. Schlössers Beobachtung: „In Sachen Gaseinsparung beziehungsweise Umstellung ist schon viel passiert, zum Teil aber zu hastig und unüberlegt. Durch Presse- und Verbändeverlautbarungen wurden viele Unternehmer so nervös, dass sie sich für viel Geld unnötig einen Flüssiggastank besorgt haben.“

Gutes Beispiel sei hingegen die Stadt Köln, die Erdgas L aus den Niederlanden beziehe, wo kein Engpass bestehe. Schwank setzt mittlerweile auf einen Technologie-Mix aus regenerativer Energieerzeugung (Photovoltaik, Solarthermie, Wärmepumpen) sowie Wasserstoffanwendungen mit einer hocheffizienten Brennstoffzelle zur dezentralen Energieversorgung. „Wir bauen Wasserstoff-Infrarotstrahler für Kunden, die über Photovoltaik Wasserstoff erzeugen. Ich hoffe nur, dass wir in Deutschland weiterhin technologieoffen agieren können und nicht kopflos in die All-Electric-Society-Falle laufen“, sagt der CEO.

Und der Einkauf?

Entscheidungen trifft bei dieser Thematik meist die Unternehmensführung. Der Einkauf spielt dann eine ausführende Rolle. „Er sollte vor allem Ruhe bewahren und helfen, voreilige und teure Fehlentscheidungen zu vermeiden“, so Friedhelm Schlösser. Inwieweit das neue Regelenergieprodukt LRD am Ende die Verknappung von Gütern beschleunigt, wird sich in den kommenden Monaten erweisen. Bei der Bundesnetzagentur seien jedenfalls zum Modell interessierte Anfragen aus anderen Ländern eingegangen, heißt es.

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