Die Lage ist ernst, das hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Ansprache zur Corona-Situation deutlich gemacht. Volkswagen fährt seine Produktion herunter und Daimler unterbricht seine Fertigung in Europa für zwei Wochen. Auch Opel, Ford sowie BMW machen ihre Schotten in Europa wegen Corona-Fällen dicht, aber auch, weil dringend benötigte Teile nicht vorhanden sind, denn Zulieferer wie Faurecia und Hirschvogel melden Kurzarbeit an. Die Pandemie erwischt aber auch den nichtautomobilen Sektor: So hat Airbus seine französischen Werke zeitweise stillgelegt und drosselt seine Flügel-Herstellung in Großbritannien und Deutschland, teilte das Unternehmen in Toulouse mit.
Können sie nicht liefern, versuchen viele Zulieferer, höhere Gewalt (Force Majeure) als Grund hierfür gegenüber ihren Kunden geltend zu machen. Der Vorteil für Lieferanten: „Die Rechtsfolgen bei einer dauernden oder zeitweisen Unmöglichkeit wären die, dass beide Parteien zumindest vorübergehend von ihren Hauptleistungspflichten befreit wären“, erklärt Carsten Möller, Zivilrechtsanwalt und Partner der Memminger Kanzlei Dietrich & Kollegen. Das wären einerseits die Lieferung, aber auch die Bezahlung des Kunden. Das Vorliegen einer Force Majeure schließt häufig einen Schadenersatzanspruch aus. „Der setzt nämlich ein Verschulden voraus“, so Möller.
Indizien sprechen für Höhere Gewalt
Ist die Corona-Pandemie nun also ein Fall von Force Majeure? Was so klar scheint, ist es nicht. Nach Ansicht von Oliver Falk, Leiter Bereich Recht International der Industrie und Handelskammer Rhein-Neckar in Mannheim und Spezialist für internationales Handelsrecht, können Ausbrüche von Krankheiten und Seuchen grundsätzlich ein Fall von höherer Gewalt sein. „Aus unserer Sicht spricht einiges dafür, dass gerade Produktionsausfälle an Standorten in den besonders betroffenen Länder oder Regionen einen Fall höherer Gewalt darstellen können“, sagt Falk.
Der Jurist hat drei Indizien für Force Majeure durch die Coronakrise ausgemacht:
- Behördliche Maßnahmen: Die meisten betroffenen Länder haben Ausgangssperren oder -beschränkungen verhängt, es gibt amtliche Reisewarnungen der Bundesregierung und die WHO hat die Situation als Pandemie, also gesundheitliche Notlage mit internationaler Tragweite, eingestuft.
- Frühere Epidemien: Auch beim SARS-Ausbruch im Jahr 2003 habe die Rechtsprechung oft höhere Gewalt bejaht.
- Chinesische Force-Majeur-Zertifikate: Die chinesische Außenhandelsbehörde China Council for the Promotion of International Trade (CCPIT) hat Tausende sogenannte Force-Majeure-Zertifikate an Unternehmen ausgestellt. So sollen diese nachweisen können, dass sie ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllen konnten aufgrund von Umständen, die außerhalb ihrer Kontrolle lagen.
Was zählt ist, was im Vertrag steht
Folgt aus diesen Punkten bereits automatisch eine Leistungsbefreiung wegen höherer Gewalt? „Nein“, meint Handelsrechtler Möller. „Es kommt immer auf den Vertrag an und was darin steht.“ Die Vertragsparteien können durchaus die Risikoverteilung in Fällen höherer Gewalt vereinbaren oder festlegen, was als „höhere Gewalt“ gelten soll. Dies geschieht in der Regel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen.
Allerdings sollte dort festgelegt sein, in welchen Fällen – und zwar explizit – höhere Gewalt gilt und wer welche Folgen zu tragen hat. „Schreibe ich in den Vertrag lediglich ‚höhere Gewalt’ rein, ist das nicht ausreichend, weil nicht präzise genug“, mahnt Möller. „Daher ist die exakte Formulierung entscheidend“, weiß der Rechtsexperte.
Wichtig sei zudem, dass die Parteien wirksam Allgemeine Geschäftsbedingungen oder sogenannte Force-Majeure-Klauseln vereinbarten. „Wechselseitige AGB dürfen sich nicht gegenseitig ausschließen, sonst sind sie nämlich nicht wirksam“, betont Möller. Die AGB sollten zudem sowohl die Informationspflichten des Lieferanten umfassen als auch die Wahl des Rechts, das im Streitfall zur Anwendung kommen soll.
Was, wenn im Vertrag keine Regelung zu höherer Gewalt festgelegt ist?
Wurde im Lieferantenvertrag keine Force-Majeure-Regelung festgelegt, muss die Frage geklärt werden, welches Recht gilt. Das ist vor allem für internationale Verträge von Bedeutung. Die Unternehmen können eine Wahl zu Gunsten des Rechts eines der Aufenthaltsorte treffen, sofern diese in unterschiedlichen Ländern liegen. Es kann manchmal aber auch von Vorteil sein, eine Rechtswahl für ein Land in den Vertrag aufzunehmen, in dem keine der Parteien ansässig ist. Auch das ist erlaubt.
Zwischen deutschen Unternehmen gilt in der Regel deutsches Handelsrecht. Das heißt, bei einem Lieferausfall aufgrund des Coronavirus können zwei Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches zur Anwendung kommen:
§§275, 326 BGB (Fall der Unmöglichkeit)
Dabei wird der Lieferant von seiner Leistungspflicht zumindest vorübergehend befreit. Der Käufer muss dann den Kaufpreis nicht zahlen, kann aber durchaus eine Entschädigung verlangen, sofern der Lieferausfall oder die Verzögerung auf Fahrlässigkeit oder Vorsatz des Lieferanten beruhte.
§313 BGB (Wegfall der Geschäftsgrundlage)
Wird das Coronavirus als Grund für eine Störung der Geschäftsgrundlage eingestuft, kann der Liefervertrag angepasst oder sogar gekündigt werden, wenn ein Festhalten in der bisherigen Form für beide Parteien unzumutbar ist.
Verträge ohne klare Rechtswahl
Es kommt vor, dass Parteien einen internationalen Vertrag miteinander schließen und keine Rechtswahl in den Vertrag aufnehmen. Wenn dann keine allgemeinen Geschäftsbedingungen anwendbar sind, bestimmen internationale Abkommen und europäische Verordnungen, welches Recht auf den Vertrag Anwendung findet.
Für Mitgliedstaaten der Europäischen Union (mit Ausnahme Großbritanniens und Dänemark) gilt die Rom-I-Verordnung. Diese bestimmt, welches nationale Rechtssystem anzuwenden ist. Sie besagt, dass das Recht des Landes der Partei Anwendung findet, die die charakteristische (wichtigste) Leistung erbringt. Bei Kaufverträgen ist das zum Beispiel das Recht im Land des Verkäufers, bei Dienstleistungsverträgen das Recht, welches im Land des Dienstleisters gilt.
Force Majeure: Was sagt das UN-Kaufrecht?
Wurde im internationalen Kaufvertrag UN-Kaufrecht (CISG) – auch als Wiener Kaufrecht bekannt – vereinbart, regelt der Artikel 79 III CISG (Vorübergehende Leistungshindernisse) Fälle von Force Majeure.
Danach muss eine Partei nicht für die Nichterfüllung ihrer Pflichten einstehen, wenn sie beweist, dass die Nichterfüllung auf einem Hinderungsgrund beruht, der außerhalb ihres Einflussbereichs liegt, und dass von ihr vernünftigerweise nicht erwartet werden konnte, diesen Hinderungsgrund bei Vertragsabschluss in Betracht zu ziehen oder seine Folgen zu vermeiden oder zu überwinden.
Diese Regelung betrifft auch sämtliche Lieferanten einer Supply Chain (Artikel 79 III Absatz 2 CISG), gilt jedoch nur für die Zeit, während der der Hinderungsgrund besteht (Artikel 79 III Absatz 3 CISG). Zudem muss die Mitteilung über die Verhinderung an den vom Lieferanten "innerhalb einer angemessenen Frist" erfolgen (Artikel 79 III Absatz 4 CISG).
Größer als der Dieselskandal
Für eine abschließende Klärung des einzelnen Streitfalls empfiehlt Carsten Möller in jedem Fall rechtlichen Beistand. „Vom Bauchgefühl her beruht eine solche Leistungsstörung oft auf Force Majeur, trotzdem kommt es immer auf den Einzelfall und seine Ausgestaltung an“, verdeutlicht der Rechtsanwalt. „Wurden Teillieferungen erbracht oder Anzahlungen geleistet? All’ das spielt eine Rolle.“ Seine Prophezeiung: „Diese Fälle werden zahlreicher und vor allem sehr viel komplexer als der ohnehin schon riesige Dieselskandal.“ Und der war alles andere als höhere Gewalt.