Dieter Profunser (links) und Frank Becker (rechts)

Dieter Profunser (links) und Frank Becker (rechts) von Hilti im Exklusiv-Interview: Es reicht nicht, sich auf eine Region oder zwei Lieferanten zu fokussieren, die regionale Unabhängigkeit rückt immer mehr in den Vordergrund. (Bild: Hilti)

Frank Becker (Einkauf) und Dieter Profunser (Technik) haben 2022 den größten Produktlaunch in der Unternehmensgeschichte von Hilti begleitet. Warum Hilti bislang gut durch die Lieferkrise kam und was die neue Modulbauweise damit zu tun hat, das lesen Sie in diesem Interview.

Hilti hat 2021 hervorragende Zahlen hingelegt. Sie beide hatten damit nicht nur ein beeindruckendes Umsatzwachstum zu managen, sondern auch eine immer schwieriger werdende Situation am Beschaffungsmarkt. In welchem Rahmen organisieren Sie Ihre Zusammenarbeit?

Dieter Profunser: Mit dem Einkauf arbeiten wir sowohl in der Technologieentwicklung zusammen, als auch in der klassischen Produktentwicklung. Wir sind in einer Matrix organisiert, das heißt, wir bilden Projektteams, die sich aus Mitarbeitenden verschiedener Abteilungen zusammensetzen. Insgesamt ist die Zusammenarbeit intensiver geworden, besonders in der frühen Entwicklungsphase. Das hängt u.a. mit allen Themen rund um die Geräte-Akkus zusammen – ein sehr dynamisches Feld.

Warum ist Ihre Abstimmung beim Akku so wichtig?

Frank Becker: Weil wir bei dieser Technologie gemerkt haben, wie entscheidend es ist, dass der Einkauf von Anfang an involviert ist und so sicherstellen kann, dass in Bezug auf Kosten, Zeit und Qualität direkt die richtigen Weichen gestellt werden. Dieses „ProActive Sourcing“ haben wir vor drei Jahren aufgesetzt und unsere Zusammenarbeit startet damit über den Materialgruppen-Strategieprozess hinaus bereits in der Technologiephase eines Produktes. Wir arbeiten immer bereichsübergreifend und verabschieden Strategien gemeinsam. Die Einkaufsstrategie ist damit kein ausschließlich vom Einkauf getriebener Prozess mehr, aber auch kein reiner Technologie-Prozess. Vielmehr müssen sich die involvierten Teams der Herausforderung stellen, einen Konsens zu erzielen.

Welche Verbindung gibt es von der Materialgruppenstrategie in die Projekte?

Becker: Indem Lieferanten, die über den Strategieprozess geprüft werden oder bei denen wir ein Verbesserungspotenzial initiieren, über die Einkaufsfunktion in das Projekt kommen. Damit haben wir dann einen geschlossenen Kreis.

Portrait Frank Becker Hilti
(Bild: Hilti)

Vita Frank Becker

Frank Becker verantwortet seit 2017 bei Hilti den strategischen Einkauf für den Geschäftsbereich Power Tools & Accessories. Zuvor war der Wirtschaftsingenieur u.a. bei der Carl Zeiss AG im Supply Chain Management und bei Booz & Company in der Strategieberatung tätig.

Das ist der Idealzustand. Funktioniert das auch in der Versorgungskrise?

Becker: Die Versorgungssituation, insbesondere beim Rohmaterial und bei den elektronischen Komponenten, ist seit 2,5 Jahren sehr anspruchsvoll und schwierig. Natürlich versuchen wir die Themen zunächst einkaufsseitig, etwa über Verhandlungen bzw. eine enge Abstimmung mit Lieferanten, zu lösen und anfallende Allokationen zu managen. Allerdings gelangen wir hier immer öfter an den Punkt, an dem wir alleine nicht weiterkommen. Dann holen wir die Entwicklung ins Boot und arbeiten an einer möglichen Substituierung von Komponenten. Seither haben wir auch auf der operativen Ebene eine starke Zusammenarbeit.

Profunser: Zu Jahresbeginn haben wir den größten Produktlaunch der Firmengeschichte gestartet, Batterien, Charger, Geräte. Gepaart mit dem, was gerade beschrieben wurde, war dies eine doppelte Herausforderung. Mit der Akkutechnologie zieht mehr und mehr Elektronik in die Geräte ein. Dies stellt uns vor spezifische Herausforderungen; beispielsweise im Hinblick auf die Anzahl der Komponenten oder den Detaillierungsgrad, den wir über die Entwicklungszeit verfolgen müssen. Mit Blick auf die Beschaffung hieß das für uns Second Sources vom Start weg zu ermöglichen.

Becker: Für die neuen Produkte haben wir deshalb den Plattformgedanken vorangetrieben. Aber auch das ist Fluch und Segen zugleich. Segen, weil wir die Volumina im Einkauf und die Ressourcen in der Entwicklung bündeln können. Fluch, wenn eine Komponente fehlt, schlägt das natürlich auf die gesamte Plattform durch. Deshalb sind Alternativen umso wichtiger, aber auch das benötigt Kapazitäten. Aus diesem Zusammenspiel die richtigen Konsequenzen zu ziehen wird die Herausforderung für die Zukunft sein.

Dieter Profunser
(Bild: Hilti)

Vita Dieter Profunser

Dieter Profunser leitet seit Mitte 2019 die globale Entwicklung für den Geschäftsbereich Power Tools. Davor war er in verschiedenen Bereichen der Forschung und Entwicklung, sowie im Projektmanagement von Hilti tätig - sowohl in Europa als auch in Asien. Dieter Profunser ist promovierter Maschinenbauingenieur.

Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Becker: Wir haben festgestellt, dass Resilienz nicht mehr gleich Resilienz ist. Wenn zwei Elektronik-Lieferanten aus der gleichen Region in China kommen und dort ein Lockdown verhängt wird, hilft uns die Second Source auch nicht weiter. Die Konzepte haben sich zwar bewährt, aber wir müssen sie im Einkauf aufgrund der extrem dynamischen Situation immer wieder neu denken. Auch für die Technik ist es eine neue Herangehensweise, wenn wir von vorneherein über eine Komponentenqualifizierung von mehreren verschiedenen Quellen nachdenken müssen.

Was bedeutet konsequentes Multisourcing für den Entwicklungsbereich?

Profunser: Elektronik ist nicht einfach ersetzbar, da spezifische Software im Spiel ist. Das müssen wir in der Technologiephase berücksichtigen und uns so aufstellen, dass wir von Beginn an verschiedene Möglichkeiten in Betracht ziehen können. Aufgrund der größeren Volumina und geringeren Vielfalt rechnet sich der Aufwand, den wir zu Beginn investieren. Auch in der Softwareentwicklung spart die Modularisierung Aufwand. Die Varianz zu reduzieren macht aber auch für die mechanischen Komponenten Sinn. Damit kann der Einkauf dann mit den Lieferanten in eine vertiefte Zusammenarbeit gehen und gleichzeitig die Risiken besser absichern.

Sie denken also die Versorgungslage in der Entwicklung immer mit?

Becker: Exakt. Allerdings muss man zwischen der aktuellen Krisensituation und strategischen Überlegungen unterscheiden. Die akute Krise ist kurzfristig. Die Frage, die wir uns strategisch stellen, lautet: Welche Änderungen werden sich abzeichnen, die wir heute schon beim Design und der Komponentenauswahl berücksichtigen müssen? Deshalb ist die Einbindung des Einkaufs bereits in der frühen Technologiephase so wichtig.

Das Unternehmen: Die Hilti Gruppe

Die Hilti Gruppe erzielte 2021 ein Umsatzwachstum von 12,1 Prozent auf fast CHF 6 Mrd. und steigerte das Betriebsergebnis um 16,3 Prozent auf CHF 847 Mio. Die Erholung brachte das Unternehmen zurück auf das Niveau vor der COVID-19-Krise. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung entsprachen mit CHF 373 Mio. (+4,2%) einem Umsatzanteil von 6,2 Prozent. Die Unternehmensgruppe hat rund 31.000 Mitarbeitende. Für 2022 rechnet Hilti erneut mit einem zweistelligen Umsatzwachstum.

Sind Sie zufrieden, wie es läuft?

Becker: Auf jeden Fall! Sowohl auf der strategischen Seite, als auch bezüglich der Reaktionsfähigkeit der Entwicklung, in kritischen Situationen innerhalb kurzer Zeit Alternativen bereitzustellen. Da hat es in den letzten zwei Jahren in der Zusammenarbeit nochmal einen ganz großen Schub nach vorn gegeben.

Profunser: Die Entwicklung sitzt ja nicht im Elfenbeinturm. Jedem ist klar, dass wir, wenn Komponenten fehlen, auch nichts verkaufen können. Alle Kollegen bringen ihre Qualifikation und Kreativität ein, um kritische Situationen zu lösen. Grundsätzlich ist unsere Unternehmenskultur geprägt von sehr viel Offenheit und Kommunikation. Gibt es ein Problem, werden alle Kollegen rasch in Kenntnis gesetzt, auch die Kritikalität ist transparent. Wir lösen Themen über funktional besetzte Teams. Allen ist bewusst, worum es geht inklusive potentieller Auswirkungen.

Entwicklung bedeutet Innovation. Welche Innovationen holen Sie von außen?

Profunser: Da gibt es zwei Ansätze. Gewisse Technologien, die wir in der Vergangenheit über Partner abgedeckt haben, holen wir bewusst wieder inhouse, insbesondere, wenn wir auf diese Weise die weitere Differenzierung unseres Portfolios absichern. Umgekehrt sind wir offen im Sinne von „outside in“, also welche Technologien wir aus anderen Industrien nutzen können. Darum kümmert sich ein spezielles Team auf Konzernebene.

Welche Rolle spielt der Einkauf beim Technologie-Scouting?

Becker: Hierfür gibt es eine eigene Fachabteilung, ein Team aus Supply Engineers, die Einkauf und Technik in idealerweise verbinden. Auch die Kostenoptimierung spielt eine Rolle. Hinzu kommt die Abstimmung im Strategieprozess, über den wir entscheiden, ob wir eine Entwicklung ausschließlich intern abdecken oder mit einem Lieferanten zusammenarbeiten.

Inwiefern hat sich Ihre Wertschöpfungskette durch den Technologiewandel (Stichwort Akku) verändert?

Profunser: Die Akkutechnologie wird immer präsenter und vom Volumen größer. Durch die Modularisierung können wir Volumina und Arbeit bündeln. Die Konsolidierung war wichtig, um das Ganze effizient und beherrschbar zu halten. Gleichzeitig ist dies für die Lieferantenzusammenarbeit interessanter.

Becker: Wir sehen uns als First Mover und bauen über den technologischen Ansatz unsere Partnerschaften aus. Das ist zu Beginn mit mehr Aufwand verbunden, aber sobald das Volumen steigt, wird es für beide Seiten interessant und eröffnet den Weg weitere Partner an Bord zu nehmen. Die Vernetzung ist eine große Chance, auch um unsere Resilienz zu stärken.

Was genau verstehen Sie unter Resilienz?

Becker. Wir haben ein „Business Interruption Risk Management“ aufgebaut, über das wir unsere Lieferketten monitoren. Wie viele Bestände haben wir in der Supply Chain versus wie groß ist der Schaden bei einem Ausfall? Worüber müssen wir uns Gedanken machen, was priorisieren, wo müssen wir Alternativen aufbauen, was hat sich geändert, was sind die Rahmenbedingungen? Früher haben wir zwei bis drei Lieferanten für strategische Komponenten qualifiziert – und alle waren glücklich.  Die neueste Dynamik zeigt uns, dass wir Risiko Management in einem größeren Rahmen definieren müssen. Es reicht eben nicht, sich auf eine Region oder auf zwei Lieferanten zu fokussieren, die regionale Unabhängigkeit rückt immer mehr in den Vordergrund. Und wir gehen in der Wertschöpfungskette tiefer. Früher haben wir uns über das Assembly von Elektronik unterhalten, heute geht es um die einzelnen Komponenten, um eine größere Transparenz und in der Tiefe eine regionale Unabhängigkeit zu erreichen. Das ist ein Trend, den wir schon länger sehen, der aber in der Krise nochmal enorm an Fahrt aufgenommen hat.

Erleichtert das gleichzeitig die nachhaltige Entwicklung Ihrer Lieferketten?

Becker: Nachhaltigkeit wird für unsere Lieferkette immer bedeutsamer. Wir setzen uns intensiv mit unserer Lieferantenbasis auseinander. Es kommen neue Lieferanten ins Spiel. Etwa für neue Materialien, Warengruppen, Materialstrategien. Wir spielen die gesamte Kette von vorne durch.

Welche Rolle spielt Kreislaufwirtschaft?

Profunser: Da sehen wir uns als Innovationstreiber, fordern Lieferanten auf, sich gemeinsam mit uns weiterzuentwickeln und stellen unser Wissen bereit. Für Kunststoffe haben wir enge Kooperationen, genauso im Bereich metallischer Werkstoffe, wo wir uns aktiv in die Entwicklungsprozesse beim Lieferanten einbringen.

Immer informiert mit den Newsletter von TECHNIK+EINKAUF

Hat Ihnen gefallen, was Sie gerade gelesen haben? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter. Zwei Mal pro Woche halten wir Sie auf dem Laufenden über Neuigkeiten, Trends und Wissen rund um den technischen Einkauf - kostenlos!

Newsletter hier bestellen!

In den letzten beiden Krisenjahren blieb Hilti lieferfähig. Welche Rolle spielt die Abstimmung mit dem Vertrieb?

Becker: Wir haben einen etablieren Sales & Operations Process für die kurz- und mittelfristige Abstimmung von Bedarfen in der gesamten Supply Chain, was natürlich die Märkte inkludiert. Den Prozess haben wir vor einigen Jahren eingeführt und sind sehr glücklich darüber, dass wir ihn haben. Parallel wollen wir unsere Wertschöpfungsketten über neue Lagerstrategien anpassen. In einigen Materialgruppen sehen wir auch mittelfristig eine hohe Dynamik und werden uns anders aufstellen. Dabei geht es nicht alleine darum, die Bestände zu erhöhen, sondern um eine optimale Verteilung der Lager in der Supply Chain über unsere 20 Produktionsstandorte hinweg. Wir denken u.a. über Bestandsstrategien bei den Lieferanten nach.

Was ist aktuell die größte Herausforderung im Einkauf?

Becker: Dass wir trotz der Krise weiter unsere Agenda und Ziele verfolgen und uns nicht zu sehr vom Tagesgeschäft treiben lassen. Insbesondere im Einkauf ist das eine Gefahr, wenn die Ressourcen knapp sind. Ein großes Thema ist dabei auch die Digitalisierung sowie die Strategien und Prozesse im Einkauf weiterzuentwickeln. Dazu gehört vor allem eine nachhaltige, klimaneutrale Beschaffung.

Sie möchten gerne weiterlesen?