Lkw stehen nebeneinander auf einem Hof

Lkw-Flotte: Viele Lieferanten stehen vor dem Aus. (Bild: Pixabay)

Für viele Lieferanten steht derzeit das kurzfristige Überleben auf der Agenda. In den vergangenen Wochen haben viele Regierungen auf der ganzen Welt Konjunktur- und Hilfsprogramme entwickelt, um den durch die COVID-19-Pandemie verursachten wirtschaftlichen Zusammenbruch zu bewältigen. Aber reichen die Programme aus? Und kommen sie zeitgerecht an, um Tausende von Lieferanten zu retten?

Kunden – große Produzenten und Hersteller – müssen ihren wichtigen Lieferanten zu Hilfe kommen. Erste Produzenten tun dies bereits. Der Michael Klemen, Vorstandsmitglied des österreichischen Einkäuferverbands BMÖ, rät in den monatlichen BMÖ Insights zu möglichst variablen und fairen Ausgestaltungen des Instruments Supply Chain Financing. Es gelte schon aus eigenem Interesse zeitnah zu handeln. Lieferanten in finanzieller Gefahr sollten nicht darauf warten, bis man auf sie zukommt. Sie sollten sich umgehend an ihre wichtigsten Kunden wenden und proaktiv um „fördernde Maßnahmen“ bitten.

„Die große Mehrheit der Menschheit ist mit der Darstellung zufrieden, als ob sie Realität wäre“, zitiert Klemen Machiavelli. Gemeint: Die Mehrheit will aktuelles Unbehagen verringern, indem sie vertraute Routinen, Verfahren und Traditionen wiederherzustellen versucht. Auf heute übertragen: Weder Abwarten noch eine saturierte Rückbesinnung auf Bewährtes der Vergangenheit ist eine Option. Das Coronavirus bedeutet nicht nur eine Gesundheitskrise von immensem Ausmaß, sondern die bevorstehende Umstrukturierung der globalen Wirtschaftsordnung. Mensch und System müssen sich umgehend neu erfinden.

Was ist Supply Chain Financing?

Supply Chain Financing (SCF) oder auch Supplier Financing ist ein alternatives Finanzierungsmodell, dass mehr Liquidität und Handlungsspielräume bringen soll.

SCF ist Teil des Supply Chain Managements und soll Finanzstrukturen sowie Geldflüsse optimieren. Im Fokus steht die Frage, welcher Lieferant der Lieferkette was und auf welche Art finanziert. In Zeiten negativer Einlagenzinsen können Kapitalbestände beispielsweise zur Vorfinanzierung von Lieferanten genutzt werden. Auch Skonti oder andere Rabatte sind Teil des SCF. Grundlage dafür ist allerdings E-Invoicing, also die elektronische Verarbeitung von Rechnungsdaten.

Einige Beispiele für SCF sind Dynamic Discounting (höhere Skonti bei früherer Zahlung), Reverse Factoring (ein Finanzdienstleister übernimmt die Vorfinanzierung der Lieferantenforderung) oder auch Rechnungsauktionen.

Einige große Hersteller hätten bereits Maßnahmen angeschoben, um das Ökosystem ihrer Lieferanten, von denen sie abhängig sind, finanziell zu unterstützen. So beschleunige BHP Billiton die Zahlung von Rechnungen. Vodafone kündigt laut Klemen an, die europäischen Lieferanten innerhalb von 15 Tagen zu bezahlen. CISCO und Hewlett-Packard Enterprise böten lange Zahlungsziele in finanziellen Unterstützungsprogrammen.

Hilfe von Kommunen

Auch Kommunen kämen ihren Lieferanten entgegen, etwa die Stadt Wien: Neben Stundung, Fristerstreckung, Herabsetzung von Steuern und Abgaben, Aussetzen von Kreditrückzahlungen und/oder Kapitaltilgungen sowie Stundung der Sozialversicherungsbeiträge gäbe es auch bei den Verrechnungsmodalitäten Anpassungen.

Die Wasserversorgung der Stadt Zürich (Department der Industriellen Betriebe) versende laut Klemen Gebührenrechnungen mit einer Zahlungsfrist von 120 statt 30 Tagen. Bis auf weiteres werde auf Mahnungen und Betreibungen verzichtet. Lieferantenrechnungen würden von der Wasserversorgung umgehend und vor Ablauf der vereinbarten Zahlungsfrist beglichen – „Verzögerungen wegen Abwesenheiten können vorkommen“, wie es heißt.

Was wird wie finanziert?

Das Thema Supply Chain Finance sei nicht neu, aber inzwischen wieder hochaktuell. Hierbei stehe die Frage im Mittelpunkt, welcher Akteur, zum Beispiel Lieferant oder (Logistik-)Dienstleister, in der Supply Chain was (z.B. Bestände, Forderungen) mit welchem Finanzierungsinstrument (z.B. Reverse Factoring, Dynamic Discounting) finanziere. Neuartige SCF-Lösungen veränderten das Working Capital Management grundlegend. Sie versprechen nicht nur eine Verbesserung der Bilanzkennzahlen und Finanzierungskosten, sondern auch eine Reduktion der Risiken und eine erhöhte Transparenz entlang der Supply Chain.

Laut BMÖ will JPMorgan Chase & Co. durch eine neue Technologiepartnerschaft Blue-Chip-Unternehmen dabei helfen, Billionen von Dollar freizusetzen, die weltweit in Lieferketten gebunden seien. Die Bank arbeite mit Taulia zusammen, einer Plattform für Betriebskapitallösungen. JPMorgan soll darüber kleineren Firmen zu einem günstigeren Zinssatz verhelfen und in kürzerer Zeit Zugang zu Kapital verschaffen.

Oberste Prämisse der Unternehmen müsse die „Fähigkeit“ sein, Transparenz über die Lieferkette mit ihren vielen kaskadierenden Gliedern zu gewinnen. Nur automatisierte Risikomanagement-Systeme seien in der Lage, aus Millionen von Datenquellen nahezu in Echtzeit belastbare Informationen herauszufiltern. Das sei die Basis für zeitnahe, professionelle Maßnahmen der Verantwortlichen. Fortschrittliche B2B-Unternehmen erwarteten längst das gleiche Maß an Sichtbarkeit und Lieferaktualisierungen wie Verbraucher (B2C). Unternehmen hätten ein Zeitfenster von maximal zwei bis drei Jahren, um ihre Lieferketten durchgehend zu digitalisieren – sonst drohten (die nächsten) schwerwiegenden geschäftlichen Konsequenzen.

Digitalisierung der Lieferkette als Muss

Die Digitalisierung löse auch die bisherigen Informationsdiskrepanzen zwischen Anbietern auf, indem alle Arten von Daten integriert werden. Ältere Unternehmensdaten werden mit neuen Eingaben aus den Lieferkettensystemen kombiniert. Digitale Zwillingsanwendungen greifen auf die frisch generierte Datenlage zu; sie erzeugen (rendern) aus Rohdaten ein Abbild der tatsächlichen Lieferkette. Das kann dann mit Tracking-Geräten abgeglichen werden. Beispielsweise könnten so die geschätzte Ankunftszeit von LKW und Waren oder die exakten Lagerplätze erfasst bzw. zugeordnet werden. Unternehmen könnten zudem Simulationen und Was-wäre-wenn-Szenarien durchführen. Planungen basierten damit auf belastbaren Informationen und nicht mehr – wie bis dato – auf vagen Prognosen.

Digitalisierung sei daher ein entscheidender Weg, um Risiken transparent zu machen. Darüber hinaus wären die geschäftlichen Vorteile, die Unternehmen durch eine effektive Weiterentwicklung ihres Supply Chain Managements erzielen können, extrem tiefgreifend. Die Modernisierung der Lieferketten durch Digitalisierung ist nach Ansicht Michael Klemens unabdingbar.

BMÖ: So sollten Unternehmen ihren Lieferanten begegnen

  • Begegnen Sie Lieferanten respektvoll. Behandeln Sie Partner so, wie sie selbst behandelt werden möchten.
  • Legen Sie die Verträge nicht zu Ihrem Vorteil aus. Suchen Sie nicht nach Lücken im Vertrag. Leben Sie vertrauensvoll den Geist des Vertrags. Stehen Sie zu Ihren Zusagen.
  • Betreiben Sie nachhaltiges Lieferantenmanagement. Tragen Sie Sorge für das Ökosystem bzw. das Lieferantennetzwerk, in dem Sie agieren. Nachhaltig heißt auch, dass es dem Lieferanten auch morgen gut gehen soll. Überlegen Sie in diesem Zusammenhang, wem Sie in welcher Form und Höhe finanzielle Unterstützung anbieten können. Und: Auch Risiken sollten beide Seiten gemeinsam tragen.
  • Bilden Sie effektive (abteilungsübergreifende) Teams. Wo haben Sie Lücken? Schließen Sie diese umgehend. Dazu gehört auch, Talente für die Zusammenarbeit zu scouten bzw. zu entwickeln. Schauen Sie auch in anderen Abteilungen und extern nach vielversprechendem Nachwuchs. Machen Sie sich für Bewerber interessant.
  • Beurteilen Sie den Status Ihrer Lieferanten. Supply Chain Manager und Chief Procurement Officers sollten rasch den finanziellen Status ihrer wichtigsten Lieferanten beurteilen, und zwar auch in der Ebene zwei und drei der Lieferkette. Setzen Sie Prioritäten.
  • Lieferanten, die hohes Ausgabenvolumen verursachen: Geben Sie jetzt Bestellungen im Voraus auf (möglicherweise „im Wert“ von mehreren Jahren), um ihre zukünftige Nachfrage zu befriedigen. Lieferanten können so Kredite gegen zugesagte Forderungen aufnehmen.
  • Lieferanten, die mittleres Ausgabenvolumen verursachen: Geben Sie jetzt Bestellungen auf, um Ihre zukünftige Nachfrage zu befriedigen. Bezahlen Sie im Voraus oder umgehend bei Lieferung. Sie können auch eine Minderheitsbeteiligung am Lieferanten erwägen.
  • Lieferanten, die geringes Ausgabenvolumen verursachen: Verlängern Sie einen Kredit, geben Sie Geld oder Rohstoffe ohne Bedingungen. Zahlen Sie im Voraus oder frühzeitig. Lockern Sie, wenn möglich, Service-Level-Vereinbarungen, deren Erfüllung für den Lieferanten teuer sein kann.

Starke müssen helfen

Die aktuelle Krise bedroht diese Ökosysteme ernsthaft. Finanzstarke Unternehmen sind gefordert und sollten daher jetzt handeln, um zu verhindern, dass ganze Netzwerke zusammenbrechen.

Die Dimension der Herausforderung sollte nicht kleingeredet werden. Unternehmenslenker müssen ihre Mitarbeiter auch auf mögliche erneute Sperren, Entlassungen und abrupte Kurskorrekturen vorbereiten. Sprechen Sie harte Wahrheiten aus, aber schließen Sie mit Optimismus ab. Heben Sie zugleich die Stärken hervor, die das Unternehmen bisher bewiesen hat. Erzeugen Sie „trotz allem“ Begeisterung für die neue Welt. Aber: Argumentieren Sie glaubwürdig und bleiben Sie authentisch.

Die Folgen der Pandemie bieten die Möglichkeit, aus einer Vielzahl sozialer Innovationen und Experimenten zu lernen – von Home Office bis Corona-Datenspende. Diese Krise wird zu dauerhaften Umwälzungen führen – das ist das einzig Gewisse im derzeit noch Ungewissen, aber sie bedeutet wie jede Krise eine einmalige Gelegenheit, bedeutende und dauerhafte Veränderungen vorzunehmen.

Autor: Michael Klemen, Mitglied des BMÖ-Vorstands

Quelle: BMÖ Insights Mai 2020

Sie möchten gerne weiterlesen?