Einkaufen war noch nie wirklich einfach, denn schon immer wurden Chef-Einkäufer damit konfrontiert, das Unmögliche möglich zu machen: Alle wollen immer den besten Preis, aber bitte ohne großes Mengen-Commitment und natürlich ohne Abstriche an der Qualität. Und dennoch war dieses mystische Dreieck aus Preis, Menge und Qualität gut zu managen, weil am Prozess Beteiligte die Kriterien transparent diskutieren und gewichten konnten. Alle Verantwortlichen im Entscheidungs- und Beschaffungsprozess waren und sind mit diesen internen Kriterien bestens vertraut. Bei der Abwägung zwischen Qualität und Preis zum Beispiel weiß jeder, was gemeint ist und am Ende des Prozesses steht eine relativ klare Entscheidung.
Vom schlüssigen Dreieck zum magischen Sechseck: Welche Kriterien gelten für den Einkauf?
Inzwischen hat sich die Beschaffungswelt jedoch dramatisch verändert und Entscheidungsprozesse sind längst nicht mehr so offensichtlich. Kriterien vervielfältigen sich und Einkaufsentscheidende müssen immer mehr Faktoren berücksichtigen. Diese stehen teilweise nur indirekt mit dem eigentlichen Produkt in Verbindung, was eine komplett neue Form der Risiko-Abwägung notwendig macht. Aus dem schlüssigen Dreieck Preis, Qualität und Menge wird ein magisches Sechseck, erweitert um die Kriterien ESG-Standards, resiliente Supply Chain und Innovation.
Herausforderung ESG
Von bereits allgemeingültigen ESG-Standards bis zum aktuell verabschiedeten EU-Lieferkettengesetz – die Anforderungen an transparente Beschaffungswege sind extrem hoch und verändern sich permanent. Nehmen wir als Beispiel den CO2 Footprint:
Im ersten Schritt geht es „nur“ darum, den CO2 -Verbrauch in der eigenen Lieferkette vollumfänglich zu berichten. Je nach Beschaffungsstrukturen und Vorlieferanten kann bereits diese Anforderung den Einkauf an einigen Stellen überfordern oder sogar alternative Bezugsquellen notwendig machen. Gar nicht so einfach, insbesondere wenn sich Qualität und Preis nicht verändern dürfen oder sollen.
In einem zweiten Schritt reden wir bereits über die wirksame Reduktion des CO2 -Footprints in der gesamten Beschaffungskette. So können Unternehmen beispielsweise für den Einkauf von Stahl auf Grünen Stahl ausweichen. Die Mehrkosten können dann über aufklärende Kommunikation an die Kunden weitergegeben werden. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit, denn Grüner Stahl steht aktuell nur in relativ begrenzten Mengen zur Verfügung und viele Lieferanten wie zum Beispiel die Automobil-Industrie, können ihre Produktion gar nicht komplett auf die umweltfreundlichere Alternative umstellen.
Der hehre Wunsch nach resilienter Supply Chain
Sowohl die Covid 19-Pandemie als auch der Ukraine-Krieg wirbelten bewährte Beschaffungswege komplett durcheinander – sowohl auf der Kostenseite als auch, und das ist noch dramatischer, auch auf der Verfügbarkeitsseite.
In puncto Beschaffungskosten führe ich an, dass sich die Preise für Logistik, zum Beispiel von Asien nach Europa, zwischenzeitlich mehr als verfünffacht hatten. Wenn plötzlich die Kosten für den Schiffscontainer mit einem Warenwert von durchschnittlich 50.000 Euro von 1.500 Euro auf 9.000 Euro ansteigen, bricht die gesamte Preis- und Margenkalkulation für die betroffenen Endprodukte in sich zusammen. Die Frage nach Alternativen in Europa ist dann schnell gestellt, allerdings je nach Warengruppe nicht schnell beantwortet.
Noch schlimmer als der sprunghafte Anstieg von Beschaffungskosten ist die mangelnde Verfügbarkeit, genauer der inzwischen unsichere Bezug von einzelnen Produkten oder Rohstoffen. Das beginnt bei Rohstoffen wie Titan, Palladium oder Vanadium, die zu einem großen Teil nur aus Russland oder China bezogen werden können. Ausweichstrategien sind in diesen Fällen extrem schwierig bis unmöglich. Faktisch können Einkäufer das Problem nur durch eine möglichst breite Streuung von Bezugsquellen auf dem Weltmarkt reduzieren.
Weniger drastisch, aber dennoch nicht zu unterschätzen sind instabile Lieferketten aufgrund politischer Interventionen. Gespräche mit CPOs bringen ans Licht, dass gerade China als verlässlicher Partner immer mehr in Frage gestellt wird oder werden muss. Aber auch hier liegen die Alternativen nicht auf der Straße, denn für viele Warengruppen ist China inzwischen der Weltmarktführer und eine Verlagerung nach Europa oder in andere Bereiche der Welt ist zumindest kurzfristig kaum möglich.
Innovationen, neue Materialien und Recycling
Gestiegene Komplexität auf den Beschaffungsmärkten rückt ein Einkaufskriterium zunehmend in den Vordergrund, das früher, vielleicht auch zu Unrecht, als eine Art Nice-to-Have-Faktor galt: Die Suche nach neuen, alternativen Materialien beziehungsweise deren Verarbeitung. Der ursprüngliche Gedanke bei die Suche nach neuen Materialien war der Wunsch nach echter Produktinnovation. Ich erinnere hier gerne an den „IKEA Tisch Lack“, der durch Verfahren aus der Türproduktion zum Bestseller wurde oder an „Zegna second skin Schuh“, der durch die Anwendung von Produktionsverfahren aus der Handschuhproduktion ermöglicht wurde. Beide Beispiele zeigen eindrucksvoll, wie der Einkauf durch die Nutzung seines Lieferanten-Knowhows zum Innovationsfaktor wird.
Deutlich brisanter gestaltet sich die Suche nach neuen Materialien mit dem Ziel, Beschaffungsengpässen aus dem Weg zu gehen oder ESG-Standards dauerhaft erfüllen zu können. Der Einsatz von Kohlewasserstoffen in der Automobil-Industrie ist ein gutes Beispiel für die Verbesserung des CO2-Footprints, der Einsatz von schnell nachwachsendem Bambus in der Bauindustrie ein zweites. Eine ganz neue und immer strategischere Rolle gewinnt hierbei die Kreislaufwirtschaft, also die Beschaffung von recycelten Materialien. Durch recycelten Beton können Engpässe bei seltenen Rohstoffen umgangen, und der CO2-Footprint drastisch reduziert werden. Ähnliches gilt in der Elektroindustrie für das Recycling von Elektroschrott.
Der Autor
Ralf Maurer hat einen klaren Fokus auf Einkauf und Category Management. Maurer orchestriert Lieferantenmanagement, Sortimentspolitik und Vertriebsprozesse. Mit Pragmatismus bricht er in Unternehmen Silostrukturen auf und setzt Optimierungspotenziale schnell frei. 2023 gründete der langjährige Geschäftsführer und Chief Product Officer Wertify Consulting. Die Beratung fokussiert sich auf mittelständische Handels- und Industrieunternehmen und deren Einkauf und Category Management-Prozesse.
Prinzipien-Übernahme aus dem Category Management als strategische Antwort
Die drastisch veränderten Anforderungen an den Einkauf im Sinne des magischen Sechsecks erfordern neues Denken und neue Methodiken in den Einkaufsabteilungen. Aus gutem Grund setzt sich auch in den Einkaufsabteilungen immer mehr der Grundgedanke des Category Managements durch. Was bedeutet das?
Category Management, kurz CM, hat seine Ursprünge im Handel und beschreibt einen definierten 8-Stufen Prozess für eine kundenfokussierte, ganzheitliche Sortimentsstrategie.
Die 8 Stufen des Category Managements
1. Kategorie Definition: Welche Artikel werden welcher Kategorie zugeordnet?
2. Kategorie-Rolle: Welche strategische Bedeutung hat die Kategorie?
3. Bewertung der Kategorie-Leistung gemäß der jeweils definierten KPIs
4. Festlegung von Kategorie-Zielen: Welche Zielwerte sollen strategisch verbessert werden?
5. Festlegen der Kategorie-Strategie: Mit welchen Maßnahmen sollen diese Ziele erreicht werden?
6. Taktische Umsetzung: Umsetzung der Strategie in konkrete Maßnahmenpläne
7. Überprüfung der Umsetzung: Soll-Ist Abweichung der Zielwerte mit dem erreichten Status
8. Kategorie Review: Regelmäßige Anpassung der verabschiedeten Strategien
Dabei werden jeder Kategorie und in einem weiteren Schritt auch jedem einzelnen Artikel sogenannten Rollen zugewiesen. Typische Rollen im Handel sind zum Beispiel Profilierungsartikel, Impulsartikel oder Preisführer. Diese Rollen entscheiden über die weiteren Handlungsmaximen. Ziel ist es, durch die strategische und taktische Rollenzuweisung Margen zu verbessern, Kundenloyalität zu erhöhen und neue Wachstumsimpulse zu generieren.
Bei der Umsetzung dieser CM-Prinzipien für den Einkauf müssen einige wesentliche Anpassungen vorgenommen werden. Im Kern geht es bei CM im Einkauf um die Verbesserung des Unternehmenswertes durch eine strategische Optimierung der jeweiligen Categories, also Einkaufsgruppen. Dieser Prozess umfasst die gesamte Beschaffungsstrategie, das Lieferantenmanagement, die Optimierung von Supply Chain-Risiken, die Berücksichtigung von ESG-Standards sowie die Beteiligung des Einkaufs an Innovationsprozessen.
Voraussetzung für einen erfolgreichen Category Management-Prozess, und damit die Optimierung des magischen Sechsecks ist eine strategische Chancen-Risiko-Bewertung der jeweiligen Einkaufs-Kategorien und der entsprechenden Produktgruppen. Und auch hier geht es darum, den jeweiligen
Einkaufgruppen und Artikeln eine strategische Rolle zuzuweisen. Typische Rollen im Einkauf sind: Qualitätsführer, Preisartikel, Innovator und Ergänzungsartikel. Anhand dieser definierten Rollen werden analog dem Retail-Prozess die strategischen und taktischen Maßnahmen für jede Kategorie und dann auch für jeden Beschaffungsartikel festgelegt. Durch diese Rollen-Zuordnung kann der Einkauf wesentlich einfacher priorisieren und entscheiden, bei welcher Einkaufsgruppe die Preisthematik im Vordergrund steht, wo Innovationen angestrebt werden, oder in welcher Gruppe zuallererst ESG-Standards verbessert oder Supply Chain Risiken reduziert werden müssen.
Und schließlich kann der Chief Procurement Officer die Ziele für seine Teams formulieren, Lieferantenstrategien anpassen und ganz besonders die Erwartungen der internen Stakeholder managen. Gerade der letzte Punkt, also die Kommunikation der Stakeholder sollte nicht unterschätzt werden: Category Management verbessert ganz wesentlich ein gemeinschaftliches Verständnis über alle Funktionsbereiche hinweg, welche Ziele mit welcher Kategorie angestrebt und erreicht werden können.
Structure follows Strategy
Für die erfolgreiche Steuerung dieser modernen CM-Prinzipien müssen Unternehmen häufig die Organisationsstrukturen anpassen. Klassische Einkaufs-Teams entwickeln sich damit zu Managern Ihrer Category mit deutlich erweiterten Kompetenzen und einer ganzheitlich ausgerichteten Verantwortung. Das klassische Silo-Denken zwischen Strategischem Einkauf, Beschaffung, Bestandsmanagement und Logistik gehört mit dieser Neusortierung der Vergangenheit an. Am besten funktionieren multifunktionale Teams mit Einkaufprofis, Produkt-Experten, Supply Chain Managern und Big Data Analysts. Außerdem sollten Unternehmen darauf achten, dass die Prozesse und Analysen weitgehend digitalisiert und im ERP-System operationalisiert werden.
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