TECHNIK+EINKAUF: Herr Wimmer, Sie verantworten bei Leuze Produktion, Logistik und Einkauf. Wo liegen Ihre Schnittstellen zur Technik?
Jochen Wimmer: Die Schnittstellen zur Technik ergeben sich sowohl über unsere Produktionsstrategie als auch über den Einkauf der direkten Materialien. Wir haben Werke in Europa, Asien und in den Amerikas. Unser Ziel ist es, dort zu produzieren, wo der Markt ist. Die Produktionsstrategie liegt bei Operations. Das Industrial Engineering, die Entscheidung über die Produktionstechnologien, verantwortet die Technik.
Herr Grönzin, Ihnen obliegt die technische Geschäftsführung. Wie wichtig sind Fertigungstechnologien für Leuze?
Henning Grönzin: Wir produzieren Sensorik. Das sind feinmechanische Prozesse. Auch wenn wir viele Fertigungsschritte automatisiert haben, geht es am Ende um einen Präzisionsabgleich, zum Beispiel mit unseren Optiken. Hieraus resultieren die Vorgaben, was die Produktionsmittel leisten müssen. Das ist nicht einfach eine Volumenproduktion.
Was ist für die Fertigung aktuell besonders herausfordernd?
Wimmer: Das starke Umsatzwachstum. 2020 hatten wir acht Fertigungslinien, heute, drei Jahre später, sind es 13.
Wie begegnen Sie dem Wachstum im Einkauf?
Wimmer: Grundsätzlich arbeiten wir mit einem operativen und einem strategischen Einkauf. arbeitet eng mit der Produktentwicklung zusammen. In jedem Entwicklungsprojekt sitzt ein strategischer Einkäufer. Der operative Einkauf bestellt nach gesetzten Regeln Materialien nach Termin und Menge. Die Herausforderung liegt in der Beschaffung des direkten Materials, vor allem der Elektronik.
Grönzin: Für unsere Herstellkosten spielt der strategische Einkauf eine essenzielle Rolle. Im Projekt gibt es die erste Vorkalkulation. Wir entwickeln Produkte, die wir viele Jahre produzieren. Es geht in der Beschaffung also immer darum, wie lange wir die Bauteile am Markt bekommen, in welchen Mengen wir zu welchem Preis bestellen können, welche Bauteile wir einlagern beziehungsweise „bunkern“, damit unsere Kunden auch für die Ausstattung neuer Anlagen über Jahre bei der gleichen Technologie bleiben können. In der Lieferkrise passierte dieses Abwägen unter einem enormen Zeit- und Versorgungsdruck.
Das Unternehmen: Leuze Electronic
Die Leuze Electronic GmbH + Co. KG mit Sitz im baden-württembergischen Owen ist ein deutscher Hersteller von Sensor- und Sicherheitslösungen für die industrielle Automation. An sechs Produktionsstandorten und in 21 Tochtergesellschaften erwirtschafteten 1.600 Mitarbeitende 2022 einen Umsatz von 323 Millionen Euro.
Was sind kritische Bauteile?
Wimmer: Elektronikbauteile, aber auch Stecker. Das Teuerste an der Sensorik sind die bestückte Leiterplatten, die wir in unserer Tochtergesellschaft in Unterstadion selbst bestücken. Für den Einkauf geht es auch um die Werkzeuge. Wann sind diese verschlissen, wann kaufen wir neu? Wir haben zahlreiche werkzeugfallende Teile.
Wie verfahren Sie, wenn Sie auf neue Lieferquellen ausweichen müssen oder wollen?
Wimmer: Dual Sourcing war bereits vor der Krise ein strategisches Thema, weil es durch die höheren Volumina wirtschaftlich darstellbar ist. Für den Prüfprozess arbeiten wir eng mit der Technik zusammen. Ein Bauteilwechsel funktioniert nicht unbedingt auf Anhieb. Letztlich entstehen immer wieder neue Prototypen, die wir hier in unserer Firmenzentrale in Owen intensiv testen, bis wir die Produkte bei diesem Lieferanten mit diesen Fertigungswerkzeugen für die Serie freigeben.
Grönzin: Wir haben eine proprietäre Technologie. Wir assemblieren die Bauteile und arbeiten in der Fügung unter anderem mit Niederdruck-Spritzguss, das heißt 200 bar und erhöhter Temperatur. Unsere Sensoren halten auch dem Druck von Hochdruckreinigern stand. Es geht um Exaktheit, deshalb müssen alle werkzeugfallenden Teile freigegeben werden, genauso wie die Leiterplatten. Bei 8.000 aktiven Artikelnummern ist das ein erheblicher Aufwand, obwohl wir Gleichteile verwenden. Unsere Entwickler arbeiten mit einer Teilebibliothek, die insbesondere die Anzahl der Elektronikbauteile begrenzt. Das hat viele Vorteile. Wenn allerdings ein Bauteil nicht lieferbar ist, wirkt sich das auf sehr viele Produkte aus.
Vita Dr. Henning Grönzin
Dr. Henning Grönzin ist technischer Geschäftsführer und CTO der Leuze Electronic GmbH & Co KG. Der promovierte Chemiker (Fachgebiet physikalische Chemie) ist seit neun Jahren bei Leuze in leitenden Funktionen tätig.
Wie sind Sie in der Lieferkrise damit umgegangen?
Grönzin: Wir haben sehr eng zusammenarbeitet. Die Prozesse hatten wir schon vorher. Trotzdem war der Aufwand groß, weil Abkündigungen oft kurz vor Lieferstopp erfolgt sind. In der Hochphase waren 140 Teile auf unserer Engpassliste. Natürlich haben wir uns am Markt, bei Brokern, umgeschaut, wenn Regellieferanten ausgefallen sind. Trotzdem mussten wir Teile ersetzen und Produkte umdesignen. Rund zehn Prozent unserer Entwicklungskapazitäten haben wir für Redesigns aufgewendet.
Wimmer: Aufgrund der steigenden Nachfrage haben wir unsere Beschaffungsaktivitäten bereits Anfang 2021 deutlich verstärkt und die Bestände massiv erhöht. Wir haben eine Materialuhr, aufgeteilt in Elektronik, Rohstoffe, Logistik und Energie. Damit haben wir die kritischen Teile identifiziert. Es ging von Anfang an vor allem um Elektronik. Die Engpässe in den anderen Warengruppen haben uns nie im gleichen Umfang tangiert.
Welche Strategie verfolgen Sie bei der Lieferantenauswahl?
Wimmer: Unter anderem eine regionale. Ziel ist Local-for-Local, in Europa, Asien und in den Amerikas. Damit erzeugen wir eine größere Unabhängigkeit und bei Bedarf können sich die Regionen untereinander versorgen. Dual Sourcing braucht jedoch eine gute Balance, um einerseits die Lieferanten bei der Stange und andererseits die Kosten im Griff zu halten.
Grönzin: Über unser Wachstum kann man die Veränderung recht gut quantifizieren. Unser Hauptwerk wird das neue Werk in Malaysia werden. Owen bleibt aber unser Leadwerk, also der Standort für neue Technologien - mit einer stabilen, ebenfalls leicht steigenden Kapazität. Aber Asien bekommt ein höheres Gewicht als in der Vergangenheit.
Sie haben in der Krise die Bestände erhöht. Bleiben Sie dabei?
Wimmer: Wir reduzieren die Bestände mit Augenmaß, legen den Schalter aber nicht einfach um, sondern agieren vorsichtig. Jeder Euro, denn wir auf Bestandsseite sparen und der zu Lieferausfällen führt, erzeugt auf der Verkaufsseite ein Vielfaches an entgangenem Umsatz. Aufgrund unseres Wachstums werden die Bestände außerdem schon im kommenden Jahr wieder steigen.
Waren Bestandserhöhung und Dual Sourcing die einzigen Maßnahmen?
Grönzin: Teilweise haben wir in unserer Leiterplattenbestückung aus verfügbaren Einzelteilen die Funktion fehlender Bauteil selbst nachgebildet. Da es um kleine Volumina ging und kleinste Flächen und wir das Knowhow im Haus haben, konnten wir uns auch so aus bestimmten Engpasslagen freischwimmen.
Wimmer: Für die bedarfsgerechte Verteilung knapper Bauteile haben wir einen eigenen Allocation-Prozess entwickelt und die Produktionsplanung über den Kundenbedarf gesteuert. Das funktioniert gut, weil wir viele Gleichteile verwenden. Die Zusammenarbeit betraf nicht alleine Einkauf und Entwicklung, sondern ging bis zum Produktmanagement und Vertrieb. Der Input kam praktisch aus dem gesamten Unternehmen. So haben wir es geschafft, trotz Versorgungskrise um 25 Prozent zu wachsen. Die Kosten sind noch hoch, aber die Verfügbarkeit ist wieder da.
Vita Jochen Wimmer
Jochen Wimmer ist seit 2017 COO bei Leuze. Zuvor war der Wirtschaftsingenieur im Supply Chain-, Material- und Produktionsmanagement tätig.
Wie begegnen Sie den Anforderungen des LkSG, das ab 2024 für Leuze gilt.
Wimmer: Unsere Idee ist nicht, Lieferanten einfach nur Formulare ausfüllen zu lassen, mit denen sie uns bestätigen, dass sie sich um ihre Lieferkette kümmern. Für uns geht es um Zusammenarbeit. Wenn diese stimmt, dann muss dem Lieferanten klar sein, dass er sich seiner Lieferkette wirklich annimmt. Der Durchgriff hängt am Umsatzanteil, den wir bei den Lieferanten haben. Bis zum Kupferbergwerk werden wir als mittelständischer Hersteller nicht kommen. Da bekommen wir Unterschriften, aber realistisch betrachtet haben wir keine Hebel in den tieferen Stufen der Lieferkette. Die Veränderung dort treiben andere, deutlich größere Player. Wir treiben sie bei den Lieferanten, für die wir als Kunden groß genug sind.
Grönzin: Der größte Teil unserer Wertschöpfung besteht aus elektronischen Bauteilen. In den vergangenen Jahren haben wir uns intensiv mit den Lieferketten in der Elektronik beschäftigt. Aufgrund der Komplexität ist es in diesem Markt jedoch unglaublich schwer die Ketten nachzuvollziehen. Und am Ende landen alle in der gleichen Fab und Region. So eine Fab zieht aber nicht mal so einfach um. Der Einfluss für uns als mittelständischer Abnehmer in diesem Markt ist begrenzt. Das muss auch der Politik klar sein.
Ist Ihre Lieferkette durch die Bemühungen transparenter geworden?
Wimmer: Auf jeden Fall. Durch die Lieferkrise, aber auch, weil wir nicht alleine, sondern alle Unternehmen an der Transparenz arbeiten. Seit Jahren arbeiten wir in unserer Lieferkette in Richtung Qualität, Performance und Service. Soziale und Umweltthemen kommen nun hinzu. Entscheidend sind die Besuche vor Ort, mit offenen Augen durch die Produktionsstätten zu gehen, Fragen zu stellen. Natürlich funktioniert das zunächst nur für die direkten Lieferanten. Die dahinterliegenden Stufen müssen diese selbst auditieren. Trotzdem wird der Einkauf durch die Anforderungen der Nachhaltigkeit noch einmal sehr viel mehr zum Gatekeeper.
Wo ist das Nachhaltigkeitsmanagement bei Leuze angesiedelt?
Grönzin: Unserem Qualitätsmanagement obliegt das gesamte Normwesen. Dort ist auch die ESG-Regulatorik verankert.
Wie wollen Sie Ihren CO2-Fußabdruck in der Lieferkette reduzieren?
Wimmer: Nachdem wir bereits unsere Produktion, über Solarenergie, Wasserkraft sowie die Förderung von Aufforstungsprojekten, in Deutschland 2022 klimaneutral gestellt haben, geht es nun an die Reduktion des Product Carbon Footprint und damit um die Zusammenarbeit mit den Lieferanten. Unsere Produkte haben einen Lebenszyklus von mindestes acht Jahren, meist länger. Zunächst geht es deshalb um die Neuentwicklungen.
Grönzin: Da der größte Hebel auch hier bei den elektronischen Bauteilen liegt, werden die großen Veränderungen Zeit brauchen. Für die Klimaneutralität werden sich ganze Industrien, ganze Technologien verändern müssen. Hier wird der Druck über die großen Abnehmer, die Unterhaltungselektronik, die Automobilindustrie kommen. Andere Materialien, die wir uns anschauen, sind die Kunststoffe.
Kommen bereits Kunststoffrezyklate zum Einsatz?
Grönzin: Bei der Optik definitiv nicht, hierfür brauchen wir extrem reine Granulate. Bei den Gehäusen sieht dies anders aus. Hier sind Stoffkreisläufe grundsätzlich möglich. Allerdings fehlen den Rezyklaten noch die Zertifizierungen, die unsere Kunden erwarten und die international sehr unterschiedlich sind. Etwa zur Entflammbarkeit, Durchschlagfestigkeit, elektromagnetischen Verträglichkeit oder anderen wichtigen Materialeigenschaften. Das Material mag die gleiche Qualität haben - das belegen auch unsere Tests - aber wir können es gegenüber unseren Kunden nicht nachweisen, da keine URL oder ECOLAB-Zertifizierung vorhanden ist. Alle neuen Rohstoffe und Materialien müssen diese Zertifizierung für die verschiedenen Einsatzzwecke und Materialgüten durchlaufen. Das ist für den Einsatz von Rezyklaten in unserer Branche eine Hürde, die Zeit braucht und Geld kostet, vor allem auf Seiten der Lieferanten.
Zum Kreislaufgedanken gehören Recyclefähigkeit und Reparierbarkeit. Welche Ansätze verfolgen Sie hier?
Grönzin: Unsere Sensoren sind fast Manufakturprodukte. Die möchten Kunden nicht wegwerfen. Sie schicken die Produkte ein und wir setzen sie, wenn möglich, instand. Es gibt Dichtungen und Schrauben, die man öffnen kann. Das ist eine seit Jahren gelebte Praxis. Nur unsere kleinsten Sensoren lassen sich nicht reparieren.
Welches Thema beschäftigt Sie mit Blick auf die Zukunft?
Wimmer: Die Verlagerung der Variantenausbildung auf eine möglichst späte Phase der Wertschöpfung, so dass die Ausgestaltung der Varianten in der Fertigung ganz zum Schluss erfolgt, in Richtung Vertrieb, in Richtung Kunde. Wir nennen das Finishing on demand. Zum Beispiel durch ein anderes Kabel. Viele unserer Sensoren gibt es in weit über 100 Varianten. Die Varianz wollen wir behalten, da unsere Kunden sie brauchen, aber wir wollen die vorgelagerte Komplexität reduzieren, um exakter disponieren und die Teilevielfalt reduzieren zu können. Hierfür müssen wir unsere Produkte anders denken. Deshalb funktioniert das nur bei Neuprodukten, nicht bei bestehenden und ist ein langfristiges Thema. Reengineering lohnt sich nicht, aber jede neue Produktgeneration muss sich daran messen.
Grönzin: Ein weiterer Punkt ist die strategische Auswahl unserer Elektroniklieferanten. Nicht alle Hersteller fokussieren sich auf die Bedarfe der Industrie. Bei den meisten stehen Konsumgüter oder Automotive im Vordergrund. Wir brauchen andere Bauteile, und wir brauchen Anbieter, die sich der Industrie zuwenden und als strategische Partner für uns in Frage kommen. Die Industrie ist für Halbleiterlieferanten ein attraktiver Markt, weil unsere Bedarfe viel weniger volatil sind als die in anderen Branchen. Die Industrieautomation wächst stabil und ist krisenfest. Einige Hersteller haben das inzwischen erkannt. Deshalb werden wir der Entwicklung künftig andere Vorgaben machen, was die Auswahl von Bauteilen bestimmter Hersteller angeht und auf strategische Partnerschaften setzen.
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