Stephan Link und Dr. Jochen Bolte von Kübler

„Durch das Baukastenprinzip reduzieren wir die Varianz und erhöhen die Flexibilität, auch weil wir Soft- statt Hardware individualisieren“, weiß Dr. Jochen Bolte (rechts). (Bild: Rüdiger J. Vogel)

TECHNIK+EINKAUF: Herr Link, Kübler verzeichnete 2021 einen Auftragszuwachs von mehr als 40 Prozent. Und das bei extrem angespannten Beschaffungsmärkten. Wie meistern Sie diesen Spagat?

Stephan Link: Tatsächlich haben wir aktuell den höchsten Auftragsbestand in unserer Firmengeschichte. Das ist extrem positiv, aber jetzt gilt es diesen Auftragseingang zu Umsatz zu machen. Dazu brauchen wir Fachkräfte, Betriebsmittel und die notwendigen Materialien. Alle drei Faktoren sind aktuell knapp. Beim Material prüfen wir im Zuge unserer Second-Source-Strategie mit Qualitätssicherung, Fertigung und Entwicklung alternative Bauteile. Allein das ist herausfordernd. Dazu kommen die Neuentwicklungen im Rahmen unseres Innovationsmarathons. Hier befinden wir uns auf der Zielgeraden.

Innovationsmarathon? Herr Dr. Bolte, klären Sie uns bitte auf.

Jochen Bolte: Beim Kübler-Innovationsmarathon handelt es sich um teilweise disruptive Entwicklungen, mit denen wir Neuland betreten. Komponenten fertigen, die wir zuvor gekauft haben, andere Herstellverfahren anwenden, mit dem Ziel Komplexität aus dem Gesamtprodukt zu nehmen. Wir arbeiten mit smarten Softwarealgorithmen, die die Fehlertoleranz des Gesamtproduktes erhöhen, wodurch die Anforderungen an die Umgebung sinken und wir plötzlich auf einen viel größeren Pool von Lieferanten statt nur auf wenige Spezialisten zugreifen können. Sie können das vergleichen mit einer Smartphonekamera, mit der aufgrund von Software heute praktisch jeder gute Fotos machen kann. In diese Richtung gehen wir mit unserer Sensorik.

Inwiefern hilft Ihnen die Teile-Reduktion im Einkauf?

Bolte: Das hilft dem Einkauf ungemein, weil wir mit unserer Strategie eine konsequent modulare Bauweise ermöglichen. Durch das Baukastenprinzip haben wir weniger Teile, mit denen wir mehr Lösungen umsetzen, weil wir im Extremfall nur die Software individualisieren. Das bedeutet: Der Einkauf kann für die Hardware mit Lieferanten über ganz andere Stückzahlen reden.

Für andere Kübler-Produkte gelten noch die komplexeren „Baupläne“. Wie sieht es insgesamt mit der Verfügbarkeit aus?

Bolte: Wir haben uns über alle Produktgruppen hinweg sehr früh damit beschäftigt, kritische Bauteile zu identifizieren und auf belastbare Alternativen umzusteigen. In vielen laufenden Entwicklungen haben wir Redesign-Schleifen gedreht, um Problemen von vorneherein aus dem Weg zu gehen. Schwieriger ist das bei bestehenden Produkten. Hier heißt unsere Strategie, entweder uns frühzeitig mit Material einzudecken oder ebenfalls ein Redesign anzustoßen. Insofern hatte die Krise durchaus positive Effekte, weil wir mitunter neue, clevere Lösungen entwickelt haben.

Link: Schon vor der Krise gab es Regelkreise zwischen Einkauf, Entwicklung, Qualität. Wir stoßen Themen frühzeitig an, über interdisziplinäre Taskforces und haben sehr kurze Entscheidungswege. Sowohl Dr. Bolte als auch ich berichten direkt an die Inhaber. Und wenn es darum geht, Bestände kritischer Materialien zu sichern, wird das schnell entschieden und braucht keine Vorstandspräsentation. 2020/21 haben wir unseren Lagerbestand um fast 50 Prozent erhöht. Das ist also schon erheblich, was wir da umgesetzt haben, auch mit Blick auf die Lagerflächen.

Beschreiben Sie Ihre Zusammenarbeit im Projektalltag, wie sieht diese aus?

Link: Vor zehn Jahren kamen die Techniker noch zu mir ins Büro, legten eine Zeichnung auf den Tisch und fragten „Was kostet das?“ Dann kamen Projektkoordinatoren aus dem Einkauf in die Entwicklung, der Einkauf zog räumlich in die Nähe der Entwicklung, mittlerweile sitzen die Einkäufer direkt in den Teams. Zumindest vor der Pandemie ermöglichte das eine sehr direkte, enge Kommunikation. Auch unsere Abteilungsbudgets investieren wir gemeinsam, organisieren Team-Events, sind in den gleichen Sportgruppen. Auf diesem Weg entstehen viele informelle Kanäle, die das Leben für alle einfacher machen.

Bolte: Die Projekteinkäufer sind genauso Teammitglieder wie die Entwickler und Mitarbeiter aus anderen Unternehmensbereichen. Der Einkauf ist ein Partner auf Augenhöhe, wir diskutieren über die richtigen Lieferanten genauso wie über neue Fertigungsverfahren.

Ihre neuen Produktlinien fußen auf weniger Bauteilen, die Sie in höherer Stückzahl zukaufen. Was bedeutet das für Ihre Beziehung zu den Lieferanten?

Link: Dadurch, dass wir Varianten mehr über Software und weniger über Hardware erzeugen, geht es in den Lieferantengesprächen plötzlich um Kapazitäten, um das Auslasten ganzer Schichten. Das ist neu. Wir haben einen ganz anderen Hebel, brauchen aber gegebenenfalls neue Partner.

Bei Ihrem Kunden Lenze kam ein neues Drehgebersystem zum Einsatz, das direkt in die Antriebstechnik, den Motor, integriert wurde. Was bedeutete das für den Entwicklungs- und Beschaffungsprozess?

Bolte: Für die Integration unserer Sensorik in die Kundenanwendungen hinein mussten wir zunächst einige technologische Hürden überwinden. Im Motor sind wir mit anderen Umgebungsbedingungen konfrontiert als außen. Die Anzahl der Teile hat sich noch weiter reduziert, weil wir uns tief in die Applikation einfügen. Diesen Weg weiterzugehen, eröffnet völlig neue Möglichkeiten. Für den Einkauf wiederum wird es einerseits einfacherer, weil es um weniger Teile geht, andererseits gilt es aber die eigene Lieferkette sehr eng mit jener des Kunden abzustimmen.

Link: Die Grenzen zum Lieferanten und zum Kunden verschwimmen immer mehr. Wir sitzen als Einkauf am Kundentisch, mit den dortigen Entwicklern, mit deren Lieferanten und müssen in dieses Konstrukt in unsere eigene, bestehende Lieferkette einflechten. Das ist eine riesige Chance für den Einkauf, aber es erfordert auch einen anderen Typus Einkäufer als den, der Lieferanten in sein Büro zitiert und Preise verhandelt. Dabei geht es nicht nur um die technisch-fachliche Expertise, sondern auch um Sozialkompetenz. Wenn alle Player an einem Tisch sitzen, wird die Supply Chain spürbar und erlebbar. Und nur wenn alle profitieren, wird die Lieferkette erfolgreich sein.

Vita Dr. Jochen Bolte

Dr. Jochen Bolte, Kübler GmbH
Dr. Jochen Bolte. (Bild: Rüdiger J. Vogel)

Der promovierte Physiker Dr. Jochen Bolte kam über die Pharmabranche und die Wägetechnik 2015 zur Fritz Kübler GmbH und übernahm dort den Bereich Forschung & Entwicklung sowie Industrialisierung, das heißt Konzept und Aufbau der Fertigungsprozesse und Betriebsmittel für die Produktion.

Mit Ihren smarten Produkten haben Sie einen Wandel angestoßen. Gleichzeitig laufen die Bestseller weiter. Wie wird die Kübler-Lieferkette am Ende aussehen?

Bolte: Die ersten Produkte sind am Markt und es werden in immer kürzeren Zyklen neue folgen. Wir haben uns technologisch tatsächlich neu erfunden und sind jetzt auf der Zielgeraden.

Link: Zu dieser Transformation gehören klassische Make-or-Buy-Entscheidungen: Investieren oder kaufen wir zu? Vielfach holen wir Wertschöpfung zurück, kaufen beim Tier-2 statt beim Tier-1. Allerdings brauchen wir weiter den Tier-1. Diese Klaviatur zu spielen, ist die Aufgabe des Einkaufs. Die neuen Partner an Bord zu holen und die bestehenden Partnerschaften zu pflegen.

Also ähnlich wie in der Automobilindustrie: Weniger Teile, weniger Komplexität durch den Technologiewandel?

Bolte: Ja, das ist ein sehr gutes Beispiel. Allerdings sind wir als Technologieführer aktuell der, der diese Entwicklung anstößt und treibt.

Macht der Fokus auf Technologie- statt Kostenführerschaft die Zusammenarbeit zwischen Technik und Einkauf einfacher?

Bolte: Wir müssen uns weiterhin für unsere bestehende Produktwelt abstimmen. Dabei geht es auch um das klassische Einkaufsthema Kosten. Das ist ein Balanceakt. Wie viel Kapazität stecken wir in neue Entwicklungen, wie viel in die Optimierung des bestehenden Portfolios.

Link: Das sind genauso große, relevante Projekte. Zum Beispiel, wenn es um Alternativen für werkzeuggebundene Teile geht. Können wir die Technologie wechseln? Brauchen wir am Ende gar kein Werkzeug mehr? Oder wir sind mit Abkündigungen konfrontiert. Die Grundfrage ist immer: Investiere ich in die Zukunft oder in die Vergangenheitsbewältigung? Und am Ende müssen wir unsere Teams mitnehmen, um die Themen erfolgreich zum Abschluss zu bringen.

Vita Stephan Link

Portrait Stephan Link
Stephan Link. (Bild: Rüdiger J. Vogel)

Als CFO zeichnet Stephan Link unter anderem für den Einkauf der Kübler Gruppe verantwortlich. Nach Studium des Wirtschaftsingenieurwesens und MBA startete er als Assistent der Geschäftsführung, wechselte in den Einkauf und kam 2011 als Leiter Einkauf und Logistik zu Kübler. Zu seinem Aufgabengebiet gehören heute Personalwesen, Rechnungswesen und Controlling. Außerdem ist er mitverantwortlich für die Standorte in Indien und den USA.

Lieferantenscouting, Procurementtools, wie digital ist der Einkauf bei Kübler unterwegs?

Link: Aktuell noch sehr klassisch. Das wird sich ändern, wenn in Kürze unser neues ERP-System an den Start geht. Aktuell gilt für unsere Systeme Bestandschutz. Für die Zeit danach gibt es aber bereits Ideen, mit welchen Tools wir Lieferantenscouting, Risikomanagement und E-Procurement abdecken. Auch über die Zusammenarbeit mit Start-ups.

Sind Start-ups für Kübler relevante Lieferanten?

Bolte: Wir arbeiten gerne mit interessanten Start-ups zusammen, die in unsere langfristige Strategie passen, auch im Rahmen von gemeinsamen Produktenwicklungen.

Wie gehen Sie mit Risiken um? Wie machen Sie Ihre Supply Chain resilient?

Link: Zunächst sind wir bestrebt eine Second Source zu haben. Es sollte einen Zweiten geben, der das auch kann. Das kommunizieren wir sehr offen, wenn die Lieferanten uns bemustern. Zusätzlich gibt es Überlegungen für digitale Frühwarnsysteme. Was uns in der Resilienz zugutekommt, ist die internationale Ausrichtung unserer Beschaffung. Durch unser Werk in Indien haben wir dort Lieferanten aufgebaut, die uns auch in Europa beliefern können. Für Allokationen nutzen wir unserer weltweiten Vertriebstöchter, um in diesen Beschaffungsmärkten ebenfalls zukaufen zu können. Grundsätzlich muss man öfter die bisherigen Pfade verlassen und in Netzwerken denken. Deshalb haben wir im Einkauf die neue Funktion der strategischen Disposition implementiert, als Bindeglied zwischen dem strategischen und operativen Einkauf, die eng am Lieferanten ist, an den Lieferzeiten und den damit zusammenhängenden Parameter.

Das heißt, neben der digitalen Überwachung nach wie vor der Faktor Mensch?

Link: Auf jeden Fall und die absolute Fokussierung auf das Thema. Wir nennen unseren strukturierten Jahresprozess im Sales and Operations Planning „Mensch, Maschine, Material“.

Passen die aktuellen Vorlaufzeiten noch?

Link: Die Szenarien müssen langfristiger werden, weil die Lieferzeiten teilweise von wenigen Wochen auf Monate oder sogar Jahre hochgegangen sind. Im Gegensatz dazu steht unser Marktversprechen 20 individualisierte Produkte innerhalb eines Tages liefern zu können. Das wollen wir leisten können und brauchen hierfür die Lieferketten. In unserer neuen, modularen Welt funktioniert das auch ohne höhere Lagerbestände. In unserer alten Produktwelt ist das ohne höhere Bestände herausfordernd. Allerdings wird in den kommenden ein bis zwei Jahren kaum ein Unternehmen ohne höhere Lagerbestände lieferfähig bleiben. Dazu haben sich die Rahmenbedingungen zu sehr verändert.

Das Unternehmen

Kübler ist ein weltweit führender Spezialist für Positions- und Bewegungssensoren (unter anderem Drehgeber), Schleifringe und Übertragungstechnologie sowie für Zähler und Prozessgeräte. Für 2021 rechnet die Unternehmensgruppe mit einem Umsatz von 80 Millionen. Kübler hat 490 Mitarbeiter, elf Tochterunternehmen und vier globale Produktionsstandorte. Stammsitz ist Villingen-Schwenningen.

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