Frank Osterhagen und Thomas Schoen von Bizerba stehen an einer Maschine

Thomas Schoen (links) und Frank Osterhagen (rechts) von Bizerba plaudern aus dem Nähkästchen, wie ihr Unternehmen die Lieferkrise agil stemmt. (Bild: Rüdiger J. Vogel)

Frank Osterhagen (Director Global Sourcing) und Thomas Schoen (CTO/COO) treffen in der Produktentwicklung des Wäge-, Schneide- und Auszeichnungsmaschinenherstellers Bizerba in einem agilen Prozess zusammen. Der enge Austausch hilft den Teams auch in der Lieferkrise.

TECHNIK+EINKAUF: Herr Schoen, Bizerba hat seit zwei Jahren einen agilen Produktentstehungsprozess. Betrifft das auch Ihre Zusammenarbeit mit dem Einkauf?

Thomas Schoen: Wir haben unseren Produktentstehungsprozess vom klassischen sequenziellen Wasserfall-Modell in eine mittlerweile komplett agile Produktentwicklung überführt. Für den Einkauf bedeutet dies, dass wir die Beschaffung nicht erst ins Boot holen, wenn wir Bauteile konstruiert haben und Muster benötigen, sondern dass wir ihn im agilen Prozess von Anfang an dabeihaben.

Wie kommen Sie von der Idee zur Serie?

Schoen: In der frühen Phase, der Ideation, besprechen wir gemeinsam, wie wir das Thema angehen, mit welchen Methoden, Fertigungsverfahren, von welchen Zulieferern, aus welchen Regionen, für welche Märkte. Zu diesem Zeitpunkt ist das komplette Spielfeld offen. Dann folgen die Prototypen, über die wir alternative Verfahren austesten und versuchen möglichst nahe an den Idealzustand zu kommen. Mit welchen Lieferanten wir in der Serie zusammenarbeiten, entscheiden wir mit dem Einkauf erst in der Industrialisierungsphase.

Frank Osterhagen: Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist: Wir sind vorne dabei, können mitgestalten und haben die Kosten von Anfang an im Blick. Gleichzeitig hat das Vorgehen die Aufgaben verändert. Es geht um Agieren auf Augenhöhe und um die Frage: „Wie holen wir gemeinsam das Optimum heraus?“ Das zu beantworten ist für den Einkauf, aber auch die Technik, ein Lernfeld. Ein anderer Punkt ist: Aus dem agilen Projekt heraus erkennen wir einen Optimierungsbedarf, den wir am Beschaffungsmarkt abbilden müssen, andererseits würden wir für die Serie gerne existierende Lieferanten weiter nutzen, weil wir wissen, dass sie funktionieren. Zudem sind viele Lieferanten an ihrer Kapazitätsgrenze. Trotzdem müssen wir neue Lösungen in die Serie überführen, ohne die Anzahl der Lieferanten ins Endlose zu erhöhen. Das ist eine der großen Herausforderungen für den Einkauf am Ende des Projektes.

Portrait Frank Osterhagen
(Bild: Rüdiger J. Vogel)

Vita Frank Osterhagen

Der Betriebswirt Frank Osterhagen verantwortet seit Oktober 2021 als Director Global Sourcing bei Bizerba den weltweiten Einkauf. Zuvor war er für die Aurubis AG (Kupferherstellung und Verwertung) in verschiedenen Positionen im Einkauf tätig, zuletzt als Vice President Procurement.

Welche Anforderung haben Sie an Ihre Serienlieferanten? Bevorzugen Sie die Prototypenbauer?

Osterhagen: Es gibt Märkte, da macht das keinen Sinn, weil ich auf bekannte Bauteile zurückgreife und deswegen beim Serienlieferanten besser aufgehoben bin. Wenn es allerdings nicht so gut läuft und ich mich für einen anderen Lieferanten entscheiden möchte, ist es in diesen Fällen schwierig, sich von dem Partner wieder zu trennen. Deshalb gehen wir bewusst auch den anderen Weg, suchen Prototypen-Partner, die sich einbringen, die schnell sind. Zeit ist ein wesentlicher Faktor. Serienlieferanten haben oft gar nicht die Kapazität, die Entwicklung zu begleiten.

Schoen: In der Prototypenentwicklung brauchen wir zügig Teile, oft additiv gefertigt, anhand derer wir die Funktion überprüfen. Für Blechteile und Zerspanung nutzen wir Firmen aus dem Umfeld, die auf Kleinserien und Prototypen spezialisiert und schnell sind. In der Industrialisierungsphase geht es im Einkauf darum, die Serienlieferanten mit Blick auf Kosten und Qualität auszuwählen, die Verträge zu verhandeln und die Werkzeuge zu beauftragen. Aus Sicht Operations ist es wichtig, dass die Bauteile in der richtigen Qualität und den richtigen Mengen zur Verfügung stehen. Wir arbeiten im Kanban-System. Wir brauchen Lieferanten, die in der Lage sind, die damit verbundenen Bedingungen zu erfüllen.

Wie finden Sie Alternativlösungen in der gebotenen Zeit?

Osterhagen: Das Zusammenspiel mit den Lieferpartnern ist entscheidend. Und der gemeinsame Blick nach vorn. Wir haben langjährige Lieferanten, zu denen wir enge Kontakte pflegen und mit denen wir gemeinsam nach Lösungen suchen. Und es gibt Lieferanten, da sind die Kräfteverhältnisse so, dass wir keine andere Chance haben als uns mit Alternativszenarien auseinanderzusetzen, um mittelfristig die Bedarfe zu decken. Hier schauen wir: Was kann man ersetzen? Aber auch: Was bringt der Ersatz? Wenn ich feststelle, dass das neue Bauteil später ebenso abgekündigt wird, hat der Aufwand nichts gebracht. Deshalb muss man sehr genau überlegen, wie man in den jeweiligen Märkten agiert.

Thomas Schoen
(Bild: Rüdiger J. Vogel)

Vita Thomas Schoen

Thomas Schoen ist seit 2015 für Bizerba tätig und verantwortet seit 2022 als Vorstandsmitglied CTO/COO Forschung, Entwicklung, Fertigung und Supply Chain des Balinger Wägetechnik-Spezialisten. Zuvor arbeitete er in verschiedenen Führungspositionen für den Waagen-Hersteller Mettler Toledo.

Welche Chancen haben Sie als mittelständisches Unternehmen in der Elektronikkrise?

Osterhagen: Wir haben gute Beziehungen zum Brokermarkt. Das kostet viel Geld, aber es hat uns schon an einigen Stellen die Versorgung sichergestellt. Und wir sind in der Frage „Kann ich A durch B ersetzen“ tatsächlich sehr gut. Das ist aufwendig, braucht unglaublich viele Ressourcen, auch im Zusammenspiel mit den Lieferanten. Und es ist auch für die Mitarbeiter frustrierend, weil sie vorne sehr viel Arbeit reinstecken und am Ende der simple Widerstand fehlt. All das beschäftigt uns gerade sehr, auch weil unsere Produktvielfalt groß und damit die Teilevielfalt auf der Beschaffungsseite noch viel größer ist.

Gibt es Bestrebungen diese Vielfalt zu reduzieren?

Schoen: Hierzu läuft bei Bizerba ein groß angelegtes Projekt. Damit haben wir es bereits geschafft, 30 Prozent weniger unterschiedliche Netzteile einzusetzen und 45 Prozent weniger Antriebsvarianten. Wir machen große Fortschritte, aber bis sich das Gleichteilemanagement überall auswirkt, braucht es Zeit, auch weil viele unserer Produkte bis zu 20 Jahre am Markt sind. Gleichzeitig reduzieren wir die Komplexität. Wenn man die Vielfalt, die man meint dem Markt anbieten zu müssen, untersucht, erkennt man, dass man mit 20 bis 30 Prozent der Komplexität 80 bis 90 Prozent seines Umsatzes abdeckt. Hierzu gehen wir in Gespräche mit dem Vertrieb.

Fließt die Umsatzwirksamkeit von Komponenten in die Risikoabschätzung des Einkaufs?

Osterhagen: Wir schauen uns natürlich an, welchen Effekt welches Bauteil im Endprodukt sowohl wirtschaftlich als auch für die Fertigung hat. Gleichzeitig stellt die aktuelle Marktsituation das klassische Einkäuferverhalten in Frage. Ich behaupte: Einen Einkäufer, der sich bei einer Preiserhöhung Gedanken darüber macht, wie bekomme ich diese Kosten so durch die Organisation, dass sich das im Verkaufspreis wiederfindet, finden Sie relativ selten. Gerade in der jetzigen Situation ist das jedoch essentiell. Es werden sicherlich einige Unternehmen in den nächsten Monaten in Liquiditäts-Schwierigkeiten geraten, weil genau dieser Schritt nicht passiert. Wir müssen uns im Einkauf ganz andere Fragen stellen als bislang.

Das Unternehmen: Bizerba

Bizerba ist ein führender Anbieter im Bereich der Wäge-, Schneide- und Auszeichnungstechnologie. Der Fokus liegt auf der Lebensmittelbranche. Bizerba ist in 120 Ländern präsent, hat 40 Tochtergesellschaften und mehrere Produktionsstandorte weltweit, beschäftigt 4.500 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und erwirtschaftet rund 800 Mio Euro Umsatz im Jahr.

Ist Ihre Organisation entsprechend aufgestellt?

Schoen: Wir kommen über die komplette Supply Chain, vom Einkauf über Fertigung, Logistik bis zum Vertrieb wöchentlich zusammen. Wir haben Themen, die relativ einfach durchlaufen, inklusive der daraus resultierenden Preiserhöhungen. Allerdings führt eine Preiserhöhung in den Büchern ja noch lange nicht zu einem höheren realisierten Verkaufspreis. Es gibt noch mehr Mechanismen, angefangen bei Rabatten, Kompetenzen im Vertrieb. 2021 ist es uns immerhin gelungen, eine im Vergleich zu unseren erhöhten Einkaufslisten im Mittel adäquate Preiserhöhung im Markt zu realisieren. Individuell betrachtet gibt es sicher Fälle, bei denen es besser laufen kann.

Inwiefern verändern Einflüsse wie Nachhaltigkeit und Technologiewandel Ihre Lieferketten?

Schoen: Einschneidend. Speziell das Thema Nachhaltigkeit. Wenn sich technische Verfahren, Materialien, Beschichtungen, Verpackungen aufgrund nachhaltiger Anforderungen ändern, führt das oft zu anderen Lieferanten. Der Wandel wirkt sich nachhaltig – im doppelten Wortsinn – auf die gesamte Lieferkette aus.

Wieviel Einfluss haben Sie hier auf Ihre Lieferanten?

Osterhagen: Wir haben eine mittelständisch geprägte Zulieferschaft, da kann und muss man gerade in Bezug auf Nachhaltigkeit eine gezielte Lieferantenentwicklung betreiben. Hierfür müssen wir einerseits viel Input geben, haben aber andererseits auch die Chance, von den Lieferanten Wissen aufzunehmen, weil diese in anderen Branchen und Regionen unterwegs sind. Die Kunst besteht darin, nicht den einen vorgegebenen Weg zu definieren, sondern in einen offenen Dialog zu gehen und das Thema gemeinsam zu entwickeln. Eines ist deutlich feststellbar: Mittlerweile ist Nachhaltigkeit bei vielen Lieferanten sehr präsent.

Wie finden Sie neue Technologiepartner?

Schoen: Wir haben ein Technologiescouting, überprüfen auch experimentelle Technologien regelmäßig, inwiefern diese für uns einsetzbar sind oder sein werden. Unser Ziel ist es, die Sparte, in der wir tätig sind, die Technologieführerschaft zu halten. Unsere Stärken sind Innovation, Qualität, Funktionalität. Dabei geht es nicht nur um Maschinen, sondern auch um Software und Dienstleistung und deren Verknüpfung.

Kaufen Sie die Software zu oder entwickeln Sie sie selbst?

Schoen: Wir haben ein Team von mehreren Hundert Softwareentwicklern, aber wir kaufen natürlich genauso Entwicklungsleistung zu. Software ist unser am schnellsten wachsender Bereich.

Osterhagen: Im Moment ist das Angebot an Softwareentwicklern mindestens so knapp wie das von Elektronikkomponenten. Wir sourcen deshalb bewusst nicht nur auf dem deutschen Markt und gehen in der Beschaffung ungewöhnliche Wege, auch über Akquisitionen.

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Wieviel Einfluss haben Sie hier auf Ihre Lieferanten?

Osterhagen: Es wird immer Warengruppen geben, bei denen wir weiterhin zu der Überzeugung gelangen, dass Singlesource der richtige Weg ist. Im Zusammenhang mit dem Gleichteilemanagement schauen wir uns Multisourcing sehr strukturiert an. Der Schlüssel liegt in einer langfristigen strategischen Ausrichtung im Rahmen einer passenden Warengruppenstrategie.

Schoen: Der Anspruch ist formuliert, wie gut er im Einzelfall erreichbar ist, ergibt die individuelle Diskussion. Dann macht man bewusst auch mal Abstriche. Allerdings nur, wenn dies vom Einkauf mit entsprechenden Maßnahmen hinterlegt wird, so dass das Risiko wieder akzeptabel ist.

Ist Ihre Lieferkette transparent genug für ein effektives Risikomanagement?

Osterhagen: In aller Regel schon. Wenn wir Baugruppen kaufen, wissen wir, welche Elemente dort verbaut sind und woher sie kommen. Die Stücklisten kommen von uns. Die Entscheidung, gewisse Teile als Baugruppe zu kaufen, treffen wir bewusst und haben stets einen gewissen Durchgriff auf das, was darunter liegt. Teilweise beschaffen wir für unsere Lieferanten die Einzelteile, um die Lieferperformance aufrecht zu erhalten. Hier sind wir gut unterwegs.

Macht die Krise offener für die Zusammenarbeit? Sind Sie näher zusammengerückt?

Osterhagen: Wenn ich das als Neueinsteiger bei Bizerba noch mit einem gewissen Abstand sagen darf: Die Rahmenbedingungen, die Sie hier vorfinden, sind in der Industrie relativ selten. Das Zusammenspiel und die kurzen Entscheidungswege, der vielzitierte Klassiker in einem Familienunternehmen, das wird hier wirklich gelebt.
Thomas Schoen: Die Teams sind tatsächlich sehr eng miteinander verlinkt, lösen tagesaktuell die anliegenden Themen und haben ein sehr kollegiales Miteinander. Es zählt allein, was Bizerba zum Endkunden liefert. Das haben alle verstanden und verinnerlicht.

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