Es ist jetzt vier Jahre her, dass Christoph Keese in seinem Buch „Silicon Valley“ über sein Treffen mit Gisbert Rühl, Chef des Stahlhändlers Klöckner, in Kalifornien berichtet hat. „Besser, wir greifen uns selbst an, als zu warten, bis jemand anders angreift“, wird Rühl darin zitiert. Aus Kalifornien nahm Rühl die Überzeugung mit, dass derjenige, der die Plattform hat, künftig auf Basis der Daten das Geschäft bestimmen wird – und dass selbst eine so traditionelle Branche wie der Stahlhandel davon massiv betroffen ist.
Der Klöckner-CEO hatte den Zeitgeist verstanden und sich entschlossen, selbst eine Branchenplattform aufzubauen. Das hat gedauert. „Wir haben es erst unterschätzt. Man muss das Unternehmen sehr viel stärker mitnehmen, damit zum Beispiel der Vertrieb die Einkäufer überzeugen kann, sich auf ‚online‘ einzulassen“, berichtet Rühl auf einer Veranstaltung für Kunden und Partner in Berlin.
XOM Metals: Mehr als nur ein Online-Shop für Stahl
Aus der Digitalisierungs-Einheit, die Gisbert Rühl damals schnell nach Berlin in ein Startup verlegt hat, sind aus zwei Mitarbeitern mittlerweile 80 geworden. Man hat eine Rehe proprietärer Plattformen und Webshops für die Kunden gebaut, hat Erfahrungen gesammelt. Daraus sind eng vernetzte Lösungen entstanden, über die das ERP-System des Kunden direkt mit dem Klöckner-ERP verbunden ist. Damit können viele Prozesse automatisiert ablaufen.
Sukzessive hat der Stahlhändler seine Domäne erweitert. Kunden können heute technische Zeichnungen hochladen, Klöckner fertigt die Teile einschließlich Prüfverfahren, Oberflächenbehandlung, Stempelung und Dokumentation. Per Sendungsverfolgung weiß der Kunde um den Status seiner Bestellung. Insgesamt soll binnen zwei Jahren etwa die Hälfte aller Verkäufe online abgewickelt werden, weitere zwei Jahre später schon 60 Prozent. Man erhofft sich, anhand der Daten der digitalen Geschäftsmodelle und mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz Bedarfe besser zu prognostizieren, um beispielsweise auch kleine Mengen zeitnah liefern zu können.
Eigenständiges Plattform-Startup
Das Lernen aus dieser Phase ist die Grundlage für den großen Wurf, an den Rühl in 2014 gedacht hat. XOM, eine unabhängige Industrieplattform, soll sozusagen das „Amazon des Stahlhandels“ werden. Nur Commodity-Stahl wird allerdings über die unabhängige Preisvergleichs-Plattform verkauft, individuelle Bestellungen laufen weiter über den Klöckner-Webshop. 21 Mitarbeiter arbeiten für das eigenständige, von Klöckner prozessual vollständig unabhängige Plattform-Startup, bis Ende des Jahres sollen es 40 sein.
Derzeit läuft das Genehmigungsverfahren durch das Bundeskartellamt. Ziel ist, Klöckner in eine Minderheitsposition unter 50 Prozent zu bringen, weil nur Unabhängigkeit die Plattform glaubwürdig macht. Dafür sucht man nach Investoren, das können andere große Stahlunternehmen sein, aber auch Venture-Capital-Companies oder andere Player. Ab dem nächstem Jahr wird es einen Standort in Chicago für die Nafta-Region geben, der Blick geht vor allem Richtung Mexiko.
Bald auch Kunststoffe im Angebot
Die Plattform soll perspektivisch alle Marktteilnehmer verbinden und ein Material-Mapping ermöglichen. Bei der Überzeugungsarbeit öffnet der Name Klöckner dem Startup überhaupt erst die Tür, um zum Beispiel mit den Leitern der Stahlwerke ins Gespräch zu kommen, erzählt Tim Milde, Geschäftsführer der XOM Metals GmbH, die aufgrund einer Kooperation mit dem Anbieter technischer Kunststoffe Röchling bald XOM Materials heißen soll.
Bisher sei die Branche weitgehend unvorbereitet für die digitale Welt, es gebe oft keine Produktbilder, nur unzureichende Materialdaten, Preislisten lägen intransparent nur in Excel vor, oft fehle es an den einfachsten Hausaufgaben, stellt Milde fest. Dennoch würden sich immer mehr Unternehmen der Herausforderungen der Digitalisierung bewusst. Auf der neuen Plattform will man den dort als Lieferanten agierenden Unternehmen eine Reihe von Services zusammen mit Partnern verkaufen, darunter Warenkreditversicherungen, Factoring, und Fulfillment durch Logistikanbieter.
Gerade große Stahlwerke sollen durch eine Shop-in-Shop-Lösung den Händler, der bis zu zwei Prozent Provision kostet, als Zwischenmann überspringen und direkt an ihre Kunden verkaufen können.
Ein einheitlicher Standard fehlt noch
Klar wurde aber auch, dass es durchaus noch Hürden gibt. So muss sich aus kartellrechtlichen Gründen ein Kunde bei jedem Supplier individuell registrieren. Auch die Vernetzung mit der Plattform bleibt erst mal komplex. „Eigentlich wollen alle eine Schnittstelle auf Knopfdruck, aber das gibt es heute noch nicht. Ein fehlender Standard ist die größte Hürde für die Digitalisierung in der Stahl- und Metallindustrie“; konstatiert Milde.
Eine Schnittstelle für den Datenaustausch zwischen den tief vernetzten Partnern koste zwischen 5.000 und 10.000 Euro. Zwar setzten große Player wie Daimler, Siemens und BASF auf den Industriestandard ecl@ss für die Beschreibung von Produkten und Dienstleistungen, doch noch steht die Entwicklung am Anfang.
XOM soll Amazon und Alibaba im B2B-Bereich zuvorkommen
Ob und welche Unternehmen nun einsteigen, um der Plattform zum Leben zu verhelfen, ist noch offen. Klöckner geht mit seinem mutigen Projekt auf Risiko. Rückfragen zeigen, dass bei weitem nicht jedem klar ist, was das neue Konzept bringen soll. Und was wird aus einem Vorreiter, wenn ein großer Teil seiner Kunden und Partner noch gar nicht bereit ist für die Zukunft?
„Mit XOM kommen Sie als Stahlverkäufer in einen Bereich, bei dem wir viele Jahre hart dafür gearbeitet haben, nicht nur über den Preis gesehen zu werden. Nun wollen Sie dieses Denken durch ein Preisvergleichsportal wieder beleben. Ist das nicht auch eine Gefahr?“, fragt ein Klöckner-Lieferant bei Rühl nach. Man gebe sich nur den Realitäten hin, so die Antwort. In fünf Jahren werde man kein Geschäft mehr ohne das Internet machen können – Kunden würden Preise für Commodities vergleichen, heute per Fax, morgen eben per Plattform und die Wertschöpfungsketten, deren Teil man sei, würden nun einmal digitalisiert. „Und ich möchte nicht, dass das irgendwann von Amazon und Alibaba kommt“, sagt Rühl.
Auf der B2C-Schiene sei der Zug für uns abgefahren. „Aber im Bereich B2B gibt es noch eine echte Chance, weil es hier komplexer ist und Industrieexpertise gebraucht wird“, glaubt Rühl. Wenn man sich hierzulande nun nicht schnell bewegt, wird man allerdings wieder das gleiche Schicksal erleiden, ist der Klöckner-Chef überzeugt.
Bild: darknightsky/Fotolia.de
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