Ulrike Kahle-Roth und Alexander Aberle in der Produktion

Ulrike Kahle-Roth und Alexander Aberle von SICK sprechen über Daten in der Supply Chain. (Bild: SICK)

TECHNIK+EINKAUF: Frau Kahle-Roth, wie ist die Beschaffung bei SICK organisiert? Welche Besonderheiten gibt es?

Ulrike Kahle-Roth: Zum einen haben wir das klassische Warengruppenmanagement. Um unsere Make-or-Buy-Strategie optimal abstimmen zu können, haben wir zudem unsere Vormontage mit dem Einkauf zusammengeführt. Im Projekteinkauf arbeitet der Einkauf ebenfalls warengruppenunabhängig in einem Team aus Produktion und R&D.

Herr Aberle, erklären Sie die Verbindung Ihres Teams zum Supply Chain Management.

Alexander Aberle: Ich verantworte das Produktmanagement eines SICK-internen Startups. Hierbei geht es um die digitale Erfassung wiederkehrender Tätigkeiten entlang der Supply Chain und den Abgleich dieser Daten mit übergeordneten Systemen wie WMS, TMS oder ERP. Wenn im Wareneingang Lieferungen ankommen, werden die entsprechenden Packstückdaten strukturiert in unserer Softwarelösung abgelegt und mit im Vorfeld verfügbaren Daten abgeglichen. Wenn ein Unternehmen am Tag 200-300 Packstücke erhält, ist zunächst einmal unklar, was im Detail ankam. Diese Blackbox öffnen wir mit unserer Lösung.

Warum hat das Produkt ein internes Startup entwickelt?

Aberle: SICK ist ein globaler Konzern und investiert viel in Forschung und Entwicklung, um neue Lösungen zu erschaffen. Innerhalb der Konzernstruktur erreichen wir mit den Startups noch mehr Schnelligkeit in der Entwicklung, unter anderem für komplett neue Business- und Wissensfelder. Wir produzieren Sensoren und Sensorsysteme. Es gab speziell in unserem Fall immer wieder Anfragen, wie man die Daten in übergeordnete Systeme migrieren und für die Automatisierung nutzen kann. Das war die Geburtsstunde unseres Startups.

Frau Kahle-Roth, wie ist die Zusammenarbeit mit den internen Startups?

Kahle-Roth: Was mir bei diesem Startup gefällt, ist, dass wir damit eine Lösung entwickelt haben, die wir selbst einsetzen. Sogenannte blinde Flecken in der Supply Chain sind auch für uns ein Problem. So ist im Wareneingang eben nicht immer klar, wo das, was morgens ankommt, gebraucht wird. In der Lieferkrise wartete beispielsweise eine Linie auf Halbleiter, um weiter fertigen zu können. Und wenn die Kiste mit den fehlenden Teilen dann eine von vielen im Wareneingang ist, die zugeordnet werden muss, bedeutet das eine unnötige Verzögerung. Unsere Teams haben sich deshalb sehr früh mit dem Team von Herrn Aberle zusammengeschlossen. Die Zusammenarbeit mit den internen Startups ist unmittelbar und effizient. Die Startups können schnell auf Anforderungen reagieren und in agiler Arbeitsweise Lösungen entwickeln.

Das Unternehmen: SICK AG

Die SICK AG ist einer der weltweit führenden Hersteller von intelligenten Sensoren und Sensorlösungen für die Fabrik-, Logistik- und Prozessautomation. Das Unternehmen mit Sitz im baden-württembergischen Waldkirch beschäftigt mehr als 11.000 Mitarbeitende und erwirtschaftete 2021 einen Umsatz von rund zwei Milliarden Euro.

 

Wo genau liegt das Problem? Die Lieferung ist ja angekommen.

Aberle: Wir erfassen die Trackingdaten der Packstücke direkt an der Rampe. Von besonders wichtigen Packstücken haben wir uns auf unterschiedlichen Wegen im Vorfeld Daten besorgt und wissen mit der Anlieferung, wie wir die Pakete sortieren und wen wir informieren müssen. Außerdem sind wir in der Lage, den Prozess so zu steuern, dass die Ware direkt dorthin gelangt, wo sie gebraucht wird. Das alles geht nun schnell und automatisiert.

Glauben Sie, dass das System die Intralogistik verändert?

Aberle: Der große Gamechanger ist die Sortierung. Es ist direkt klar, welche Kategorien im Wareneingang ankommen und wie die nachfolgenden Prozesse aussehen. Die sind für Bestell-, Produktions-, Lagermaterialien, Nachschub, Materialien für Reparaturen, Retouren oder Zollware unterschiedlich. So automatisieren wir Wareneingänge – unsere und die unserer Kunden. In dem Sinne kann man sagen: Ja, die Automatisierung des Wareneingangs wird die Intralogistik in einem bestimmten Maß verändern.

Arbeitet der Einkauf mit R&D anders zusammen als mit den Startups?

Kahle-Roth: Bei den Startups, mit kurzen Entwicklungszyklen, agilen Sprints und Backlog für zukünftige Ideen, arbeiten wir sehr nah an den Bedürfnissen der Kolleginnen, Kollegen und Kunden. Das ist im Projekteinkauf und mit R&D ganz ähnlich. Allerdings denken wir im Startup-Umfeld noch losgelöster und noch weniger in Warengruppen. Die Strategie, interne Startups aufzubauen, hat uns schneller gemacht und wir denken breiter und noch mehr in Gesamtlösungen.

Inwiefern nutzen Sie den Einkauf, Herr Aberle?

Aberle: Obwohl wir als Startup-Organisation klein sind, können wir auf die Konzernstrukturen zurückgreifen, das ist ein großer Vorteil. Wenn wir mit Cloud-Computing-Anbietern verhandeln, haben wir eine Rechtsabteilung und den Einkauf, der das zentral verhandelt. Auch die Zusammenarbeit mit der Logistik ist extrem wertvoll: wir waren durchgängig vor Ort und konnten sehen, welche Herausforderungen existieren und diese schnell und effizient zusammen lösen.

Vita Alexander Aberle

Alexander Aberle Portrait
(Bild: SICK)

Alexander Aberle ist bei SICK seit 2005 tätig. Verschiedene Stationen führten ihn in die Bereiche Logistik, Prozessdesign, Marketing, Projektmanagement Industrie 4.0. Seit 2021 leitet Aberle das unternehmensinterne Startup „Horizontal Supply Chain Collaboration“, dessen Lösungen auch bei SICK zum Einsatz kommen.

Was können Sie voneinander lernen?

Kahle-Roth: SICK kommt vom Wasserfall-Projektmanagement. Heute arbeiten wir sehr viel agiler. Das ist für eine Firma mit vielen Ingenieurinnen und Ingenieuren, die in Deadlines denken, keine einfache Umstellung. Auf die Frage „Wann ist das fertig?“ antworten wir: „Das entscheiden wir im nächsten Sprint.“ Als Organisation lernen wir agiler zu denken und die Methoden in die normalen Prozesse zu übernehmen.

Und im Einkauf?

Kahle-Roth: Fördert es die Art und Weise, wie wir mit unseren Lieferanten zusammenarbeiten. Sie ist enger und wir dadurch schneller. Wir brüten nicht in unserem Kämmerlein zwei Jahre über etwas, das es auf dem Markt gar nicht gibt. Und der Lieferant dann womöglich nochmal ein Jahr braucht, bis er es hat. Diese schnelle Reaktion auf den Markt hat uns auch geholfen, die letzten drei turbulenten Jahre sicher zu überstehen.

Haben Sie hierfür ein Beispiel?

Aberle: Das aufgrund von Bauteileknappheit erforderliche Redesign von Produkten haben wir in agilen Teams mit dem Einkauf anhand der Verfügbarkeiten sehr schnell umgesetzt.

Schauen Sie als Startup anders auf den Beschaffungsmarkt?

Aberle: Wir betreiben einen Benchmark, schauen uns an, welche Wettbewerber es gibt und wie sie die Themen angehen. Auch auf Kooperationsebene, Vernetzung ist wichtig.

Wie würden Sie für Ihr Ressort die Herausforderungen der letzten Jahre beschreiben?

Kahle-Roth: Die vielen Redesigns haben die Zusammenarbeit zwischen Einkauf und R&D gefördert und gleichzeitig eingefordert. Mehr Transparenz wurde erzeugt, das Portfolio wurde erfrischt und bei uns eine tiefe Kenntnis erzeugt, wer die Vorlieferanten unserer Lieferanten sind und wo diese sitzen. Dadurch sind wir resilienter geworden. Effizienz und Transparenz beginnt bereits am Anfang der Lieferkette.

Diversifizieren oder konsolidieren Sie Ihre Lieferantenbasis?

Kahle-Roth: Wir haben sehr viel diversifiziert und sogar Arbeitsschritte inhouse geholt, wenn Lieferanten nicht liefern konnten. Außerdem haben wir Materialien für unsere Lieferanten über unseren Einkauf beschafft. Diesbezüglich haben wir innovative Lösungen geschaffen.

Vita Ulrike Kahle-Roth

Ulrike Kahle-Roth im Portrait
(Bild: SICK)

Ulrike Kahle-Roth, Vorständin Supply Chain und Fulfillment, ist seit 2019 für SICK tätig. Zuvor arbeitete die Supply Chain Spezialistin für Dow Chemical und A. Schulman. Ihr Vorstandsressort, das sie seit Ende 2022 verantwortet, umfasst den Einkauf, die Produktionen sowie das Customer Fulfillment.

Wieviel Fertigungstiefe wollen Sie behalten?

Kahle-Roth: Es bedarf definitiv eines Screenings, was sich langfristig darstellen lässt. Aktuell hat sich der Beschaffungsmarkt etwas beruhigt. Allerdings haben wir schon zuvor die Strategie verfolgt, gewisse Teile zurückzuholen, weil unsere Sensorlösungen sehr spezielle Anforderungen haben. Dabei wird genau abgewogen, weil wir uns intensiv mit der Technologie auseinandersetzen müssen.

Hat sich Ihr Risikomanagement verändert?

Kahle-Roth: Das haben wir weiter ausgebaut, auch in Richtung ESG. Die Anforderungen des LkSG haben wir schnell umsetzen können, weil wir bereits eine gewisse Tiefe im Lieferantenmarkt haben. Ich bin seit über 20 Jahren im Supply Chain Management und ich glaube, dass es noch nie so notwendig war, zu wissen, woher Lieferanten ihre Teile bekommen und welches Risiko sie haben, im Gegensatz zu uns. Das muss ein gemeinsames Risikomanagement sein, idealerweise bis zum nächsten Lieferanten. Denn wenn das alle nur für sich abfedern, ist das für jeden einzelnen nicht stemmbar.

Hat Just-in-Time noch Zukunft?

Kahle-Roth: Ich sehe das in globalen Strukturen nicht mehr, weil einfach zu viele Disruptionen in zu kurzer Zeit auftreten, die weltweiten Lieferketten sehr viel anfälliger sind und bleiben. Wir differenzieren bereits und haben das Risikomanagement fest ins Warengruppenmanagement integriert.

Die Bestände bleiben so hoch?

Kahle-Roth: Bei den Beständen ist das Pendel sehr weit ausgeschwungen. Es wird wieder zurückschwingen, aber nicht auf das frühere „lean“ Niveau, das Bestände als „waste“ bezeichnete. Bestände habe durchaus etwas Gutes. Aber ich brauche in der Produktion und im Einkauf andere Kompetenzen, weil die Risikobetrachtungen auch ins Bestandsmanagement übernommen werden müssen.

Nennen Sie ein bitte ein Beispiel.

Kahle-Roth: Es gibt durchaus komplexe Produkte, mit der „einen goldenen Schraube“, die fehlen kann. Allerdings sind Systeme und Prozesse oftmals noch nicht so dynamisch, dass sie in einem solchen Fall auch die Nachbestellung für alle anderen Bauteile stoppen. Die klassischen ERP-Prozesse greifen hier also zu kurz. Deshalb haben wir begonnen unsere Bestände zu segmentieren. C-Teile laufen über automatisierte Bestellungen in den Sicherheitsbestand. Wenn dieser aber plötzlich leer ist, was passiert dann?

Wenn Sie Ihre Bestände anders segmentieren, meinen Sie damit nach Risiken?

Kahle-Roth: Exakt. Weil auch ein fehlendes C-Teil ein Problem ist. Das kann beispielsweise eine fehlende Dichtungsschnur oder Klebstoff sein. Das Material ist immer am Lager und plötzlich nicht mehr. Bis die Klärung anläuft - warum fehlt das, welche Alternativen haben wir - kann es sein, dass eine Produktion steht. Das möchten wir selbstverständlich vermeiden.

Aberle: Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie die Entwicklung und der Einkauf in der Krise sehr produktiv zusammengearbeitet haben. Man kann für eine fehlende Schraube schauen, ob man eine andere Schraube findet. Man kann aber auch disruptiv denken und einen Klebstoff nutzen. Natürlich bedarf dies der technischen Zertifizierung und der Qualifizierung neuer Lieferanten. Es könnten auch neue Engpässe entstehen. Deshalb muss die Entwicklung hier sehr eng und agil mit dem Einkauf zusammenarbeiten, um schnell zu Lösungen zu kommen, die industriell verwertbar sind und dem Kunden gleichbleibende oder sogar noch bessere Qualität bietet. Tatsächlich haben wir einige Fügungen über Klebestreifen gelöst, was zeitgleich das Problem des Dichtstreifens lösen kann. Auch über Laser- und Kunststoffschweißen haben wir nachgedacht. Das waren Verfahren, die wir für solche Fälle bisher nie in Erwägung gezogen hatten.

Wie gehen Sie mit der ESG-Regulatorik um? Es kommt ja einiges auf die Industrie zu.

Kahle-Roth: Nachhaltigkeit hat bei SICK einen hohen Stellenwert, schon immer. Wir beschäftigen uns schon sehr lange und ganzheitlich damit, sei es über energieeffiziente Gebäude, grüne Verpackung, CO2-sparende Logistik oder nachhaltige Produktion. Natürlich kommen immer wieder neue Themen hinzu, wie die Einwegkunststoffabgabe oder das Verpackungsgesetz, für die wir nachweisen müssen, wieviel Kunststoff sich in jedem Produkt befindet und wie genau es verpackt ist. Diese Anforderungen nehmen wir auf und integrieren sie in unsere Standardprozesse.

Wie haben Sie Nachhaltigkeit im Einkauf abgebildet?

Kahle-Roth: Über unser Warengruppenmanagement und die entsprechenden Funktionen, wie die Logistik. Etwa bei den Verpackungen: aktuell stellen wir auf Plastikverpackungen aus Rezyklat um. Dort, wo wir Kunststoff nicht ersetzen können, führen wir ihn im Kreislauf. Unsere Kartons sind nicht mehr beschichtet, so dass sie sich ebenfalls besser recyceln lassen. Natürlich müssen die Verpackungen gleichzeitig unsere Anforderungen zum Beispiel an die Transportsicherheit erfüllen, denn wir verschicken sensible Elektronik. Und man muss die Effizienz mitberücksichtigen. Etwa in Tüten verpackte Kabel, die einfacher zu greifen, zu zählen und zu sortieren sind als unverpackte Kabel. Auch hier arbeiten wir kontinuierlich an Lösungen. Außerdem nutzen wir Pendelverpackungen. Das kostet Geld, wir müssen sie hin und herschicken, sie vorhalten und die Lieferanten damit bestücken, aber das ist es uns wert.

Zitat

Effizienz und Transparenz beginnt bereits am Anfang der Lieferkette.

Ulrike Kahle-Roth, SICK

Wie etablieren Sie in der Produktentwicklung nachhaltige Aspekte?

Aberle: Zum Beispiel über den Impact unserer Produkte. Unsere Rauchgasanalysatoren etwa messen Emissionen – SICK war damit bereits in den 1950er Jahren ein Pionier. Die Messwerte dienen unter anderem als Nachweis für den Emissionshandel. Schwerölbetriebene Fracht- und Kreuzfahrtschiffe müssen ihren Betrieb in Küstennähe auf technisch aufwändigen Katalysatorbetrieb umstellen, den Nachweis bzw. die Kontrolle gelingt über unsere Rauchgasanalysen. Wir erkunden mit neuen Start-Up Teams vor allem neue Geschäftsfelder. Zum Beispiel im Bereich Agriculture, um eine regenerative Landwirtschaft zu ermöglichen. Oder bei der Qualitätskontrolle im Lebensmittelbereich, so dass bei Verunreinigungen nicht ganze Lebensmittelchargen entsorgt werden müssen, sondern nur einzelne Produkte. Wenn wir Produkte liefern, die Firmen effizienter und nachhaltiger machen, unterstützen wir Unternehmen dabei, umweltschonende Maßnahmen zu ergreifen. Neben unseren eigenen hohen Standards SICK trägt mit seiner Technologie dazu bei, dass Unternehmen ihre Umweltziele erreichen können.

Welche Projekte stehen im Supply Chain Management demnächst an?

Ulrike Kahle-Roth: Für die Vergleichbarkeit unserer Lieferketten möchten wir noch mehr Transparenz schaffen, auch hinsichtlich der Nachhaltigkeit. Die Produktionsplanung werden wir zukünftig nicht mehr wie bisher auf Basis von hinterlegten Wiederbeschaffungsfenstern durchführen, sondern zunehmend konkrete Events aus der Lieferkette in die Planung einfließen zu lassen. Unser Ziel ist es, einer faktenbasierten agilen Planung möglichst nahe zu kommen. Ein damit zusammenhängendes Feld ist Big Data Analytics. Wir haben die Daten, aber wir müssen sie einfacher und besser zugänglich machen, auf dem Shopfloor und extern. Wenn ein Lieferant Materialien nicht verschickt, möchte ich unmittelbar wissen, welche Kundenaufträge davon betroffen sind. Wir halten diese Daten bereits vor, müssen sie aber noch in ein Bild bringen.

Immer informiert mit den Newsletter von TECHNIK+EINKAUF

Hat Ihnen gefallen, was Sie gerade gelesen haben? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter. Zwei Mal pro Woche halten wir Sie auf dem Laufenden über Neuigkeiten, Trends und Wissen rund um den technischen Einkauf - kostenlos!

Newsletter hier bestellen!

Sie möchten gerne weiterlesen?