KI im Einkauf: Menschliches Know-how gefragter denn je
Die Fähigkeiten der Künstlichen Intelligenz gehen längst über die Unterstützung von Routinetätigkeiten hinaus. Deshalb empfinden Einkäufer sie häufig als Bedrohung für ihre Jobs. KI ist aber nicht der Auslöser der Transformation, sondern das Mittel, um sie zu bewältigen.
Jan-Hendrik Sohn, Vice President Central & Northern Europe bei Ivalua Jan-Hendrik Sohn, Vice President Central & Northern Europe bei Ivalua
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Künstliche Intelligenz ist das Werkzeug für die Transformation im Einkauf.fotomek - stock.adobe.com
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Die Beschaffung unterliegt denselben globalen Megatrends wie
andere Unternehmensbereiche: Techniken und Märkte verändern sich rasant,
ESG-Themen stellen neue Anforderungen an das Lieferketten-Management. Mit
herkömmlichen Mitteln sind diese Aufgaben kaum zu bewältigen. Insofern trat die
KI genau zur richtigen Zeit auf den Plan – allerdings mit den bekannten Folgen:
Wie das World Economic Forum in seiner aktuellen Studie zum Thema „Future of
Jobs“ belegt, üben Digitalisierung und speziell KI den größten und gravierendsten
Einfluss auf die Transformation vieler Berufszweige aus.
Vor
allem schrumpft die „Lebenszeit“ von erworbenen Kompetenzen. Was heute noch
State of the Art ist, könnte in fünf Jahren bereits obsolet sein. Das gilt
nicht nur für das technische Know-how. Vielmehr geht es auch um die Frage,
welche Rolle die Beschäftigten für die unternehmerische Wertschöpfung spielen
wollen und können.
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Ambidextrie ist der Game Changer
Denn
auch die Unternehmen selbst müssen sich transformieren: Bis vor wenigen Jahren
konnten sie noch entscheiden, ob sie sich lieber auf die Optimierung
bestehender Ressourcen, Prozesse und Fähigkeiten konzentrieren oder auf die
Suche nach neuen Technologien und Geschäftsmodellen machen sollten. Diese Wahl
haben sie nicht mehr: Heute müssen sie gleichzeitig ihre Effizienz steigern und
neue Wachstumschancen erschließen.
Der
Fachjargon nennt das Ambidextrie, auf Deutsch etwa: „zwei rechte (!) Hände
haben“. Auf die Lieferkette bezogen heißt das, operative Exzellenz mit
innovativen Lösungen zu verbinden. Im Einkauf müssen Aufgaben wie Sourcing
& Contracting, Pflege strategischer Lieferantenbeziehungen und frühzeitige
Einbindung in die Beschaffungsprozesse durch ein Value Management mit
360-Grad-Perspektive komplettiert werden.
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AI-Agenten handhaben komplexe Aufgaben
Die
im Einkauf Beschäftigten erledigen immer weniger Standardaufgaben. Dafür gibt
es heute die unterschiedlichen Ausprägungen der künstlichen Intelligenz. Die
jüngste Generation der „Generative AI“ ist in der Lage, selbständig
Informationen zu sammeln und zu verdichten sowie Kommunikationsprozesse ohne
menschliches Eingreifen auszuführen. Allerdings ist Vorsicht geboten: „GenAI“
weiß nichts von der Wirklichkeit, sondern berechnet Wahrscheinlichkeiten und
improvisiert notfalls.
Der Autor: Jan-Hendrik Sohn
Jan-Hendrik Sohn ist Central & Northern
Europe bei Ivalua. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung im
E-Procurement-Business und ist Experte für die Einkaufsprozesse in
Großunternehmen. Der gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann war vorher als
Senior Account Director DACH bei Tradeshift tätig. Während seiner Karriere
bekleidete Sohn verschiedene Führungspositionen – unter anderem als Sales
Director bei SynerTrade, Prokurist und Mitglied der Geschäftsführung der
Onventis GmbH sowie als Sales Manager für die DACH-Region und die Niederlande
bei Capgemini Procurement Services.
Dieses
Manko versprechen die AI-Agenten zu beheben. Sie ergänzen GenAI durch
Möglichkeiten für Planung, dauerhafte Speicherung und Feedback-Schleifen sowie
Zugriff auf externe Ressourcen und Interaktion mit der Umgebung oder anderen
Agenten. Sie können umfangreiche Aktivitäten wie den Source-to-Pay-Prozess in
Spezialaufgaben unterteilen und getrennt – mit Hilfe von GenAI – abarbeiten. Im
Gegensatz zur isolierten GenAI vermag die „Agentic AI“ mehrstufige Prozesse zu
planen, zu orchestrieren und auszuführen, ohne dass sie ständig von
menschlicher Intelligenz überwacht werden müsste.
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Konsequenzen für die Procurement-Jobs
Diese
AI-Agenten verändern die Einkaufsfunktion erheblich. Bislang standen operative
Prozesse, manuelle Auswertungen und transaktionale Aufgaben im Vordergrund.
Jetzt sind strategische, analytische und koordinatorische Kompetenzen gefragt.
Die neue Rolle des Einkaufs lässt sich mit fünf Merkmalen umschreiben:
Orchestrierender Entscheider
Agentic
AI übernimmt repetitive Aufgaben wie Request for Information (RFI) oder Request
for Proposal (RFP), sie recherchiert geeignete Lieferanten, analysiert
Verträge, bewertet Risiken und generiert Benchmarks. Damit hat der Einkäufer
Zeit für höherwertige Aufgaben wie die Interpretation von Daten, das
Stakeholder-Management oder die Adaption seines Bereichs an die
Unternehmensstrategie.
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Daten-kompetente Instanz
Dank
KI hat der Einkauf schnellen Zugriff auf konsolidierte, dynamische und
qualitativ bewertete Informationen zu Preisen, ESG-Risiken sowie Markttrends,
Lieferfähigkeit und Vertragsinhalten. Der Einkäufer ist die „daten-kompetente
Instanz“. Er evaluiert die Vorschläge der Maschine, reichert sie mit seinem
Kontextwissen an und trifft letztlich die Entscheidung.
Gestalter von Wertschöpfungsketten
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Die
Entlastung von rein operativen Tätigkeiten ermöglicht es dem Einkauf, sich
stärker auf die Wertbeiträge zu konzentrieren, indem er beispielsweise
Innovationspartnerschaften mit Lieferanten eingeht, Risikoprävention betreibt,
Nachhaltigkeitsstrategien entwickelt, die Total Cost of Ownership (TCO)
verbessert und systematisch neue Potenziale identifiziert.
Analytiker und Kommunikator
Neben
klassischem Verhandlungsgeschick sind künftig Fähigkeiten im Umgang mit Daten
sowie analytisches Denken, interdisziplinäre Kommunikation und technologische
Offenheit gefordert. Der Umgang mit KI-Systemen verlangt ein grundlegendes
Verständnis von deren Funktionsweise und Grenzen, um die richtigen Fragen
stellen zu können.
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Partner der Maschine
Den
klassischen Category Manager dürfte es befremden, wenn heute AI-Agenten mit
AI-Agenten die Lieferbedingungen aushandeln. Aber das Grundprinzip bleibt
dasselbe - nur dass die Maschine dem Menschen die Kleinarbeit abnimmt. Ein
guter Einkäufer wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein guter Manager von
AI-Agenten und Orchestrator von elektronischen Marktplätzen sein. Die Technik
erweitert seinen Handlungsspielraum und beschafft ihm die Informationen, die er
für schnelle und gute Entscheidungen braucht.
Fazit
Die
KI als Arbeitsplatzvernichterin zu dämonisieren, ist weit verbreitet, aber
falsch. Nach den aktuellen Prognosen des World Economic Forum schafft sie sogar
mehr Jobs als sie nimmt. Allerdings wirkt sie sich auf die Kompetenzprofile
aus: Die Rolle des Einkaufs besteht nicht in der transaktionsorientierten
Abwicklung von Prozessen, sondern in der datengestützten Steuerung der
Lieferketten. Mittelfristig zielt sie auf ein strategisches „Business Value
Management“, das zwischen den internen Anforderungen, der unternehmenseigenen
Innovationskraft, dem Markt und den externen Einflüssen auf die Lieferketten
vermittelt.
Darauf sollten die Unternehmen ihre
Einkaufsorganisationen vorbereiten, indem sie heute schon Berufsbilder wie
Supplier Relationship Manager oder Supplier Risk Manager entwickeln. In diesem
Arbeitsumfeld sind typisch menschliche Fähigkeiten gefragter denn je:
Führungskompetenz, emotionale Intelligenz, Kreativität, kritisches Denken und
die Fähigkeiten zum Lösen komplexer Probleme