Neue Rolle für die Beschaffung

KI im Einkauf: Menschliches Know-how gefragter denn je

Die Fähigkeiten der Künstlichen Intelligenz gehen längst über die Unterstützung von Routinetätigkeiten hinaus. Deshalb empfinden Einkäufer sie häufig als Bedrohung für ihre Jobs. KI ist aber nicht der Auslöser der Transformation, sondern das Mittel, um sie zu bewältigen.

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Künstliche Intelligenz ist das Werkzeug für die Transformation im Einkauf.
Künstliche Intelligenz ist das Werkzeug für die Transformation im Einkauf.

Die Beschaffung unterliegt denselben globalen Megatrends wie andere Unternehmensbereiche: Techniken und Märkte verändern sich rasant, ESG-Themen stellen neue Anforderungen an das Lieferketten-Management. Mit herkömmlichen Mitteln sind diese Aufgaben kaum zu bewältigen. Insofern trat die KI genau zur richtigen Zeit auf den Plan – allerdings mit den bekannten Folgen: Wie das World Economic Forum in seiner aktuellen Studie zum Thema „Future of Jobs“ belegt, üben Digitalisierung und speziell KI den größten und gravierendsten Einfluss auf die Transformation vieler Berufszweige aus.

Vor allem schrumpft die „Lebenszeit“ von erworbenen Kompetenzen. Was heute noch State of the Art ist, könnte in fünf Jahren bereits obsolet sein. Das gilt nicht nur für das technische Know-how. Vielmehr geht es auch um die Frage, welche Rolle die Beschäftigten für die unternehmerische Wertschöpfung spielen wollen und können.

Ambidextrie ist der Game Changer

Denn auch die Unternehmen selbst müssen sich transformieren: Bis vor wenigen Jahren konnten sie noch entscheiden, ob sie sich lieber auf die Optimierung bestehender Ressourcen, Prozesse und Fähigkeiten konzentrieren oder auf die Suche nach neuen Technologien und Geschäftsmodellen machen sollten. Diese Wahl haben sie nicht mehr: Heute müssen sie gleichzeitig ihre Effizienz steigern und neue Wachstumschancen erschließen.

Der Fachjargon nennt das Ambidextrie, auf Deutsch etwa: „zwei rechte (!) Hände haben“. Auf die Lieferkette bezogen heißt das, operative Exzellenz mit innovativen Lösungen zu verbinden. Im Einkauf müssen Aufgaben wie Sourcing & Contracting, Pflege strategischer Lieferantenbeziehungen und frühzeitige Einbindung in die Beschaffungsprozesse durch ein Value Management mit 360-Grad-Perspektive komplettiert werden.

AI-Agenten handhaben komplexe Aufgaben

Die im Einkauf Beschäftigten erledigen immer weniger Standardaufgaben. Dafür gibt es heute die unterschiedlichen Ausprägungen der künstlichen Intelligenz. Die jüngste Generation der „Generative AI“ ist in der Lage, selbständig Informationen zu sammeln und zu verdichten sowie Kommunikationsprozesse ohne menschliches Eingreifen auszuführen. Allerdings ist Vorsicht geboten: „GenAI“ weiß nichts von der Wirklichkeit, sondern berechnet Wahrscheinlichkeiten und improvisiert notfalls.

Der Autor: Jan-Hendrik Sohn

Jan-Hendrik Sohn

Jan-Hendrik Sohn ist Central & Northern Europe bei Ivalua. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung im E-Procurement-Business und ist Experte für die Einkaufsprozesse in Großunternehmen. Der gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann war vorher als Senior Account Director DACH bei Tradeshift tätig. Während seiner Karriere bekleidete Sohn verschiedene Führungspositionen – unter anderem als Sales Director bei SynerTrade, Prokurist und Mitglied der Geschäftsführung der Onventis GmbH sowie als Sales Manager für die DACH-Region und die Niederlande bei Capgemini Procurement Services.

Dieses Manko versprechen die AI-Agenten zu beheben. Sie ergänzen GenAI durch Möglichkeiten für Planung, dauerhafte Speicherung und Feedback-Schleifen sowie Zugriff auf externe Ressourcen und Interaktion mit der Umgebung oder anderen Agenten. Sie können umfangreiche Aktivitäten wie den Source-to-Pay-Prozess in Spezialaufgaben unterteilen und getrennt – mit Hilfe von GenAI – abarbeiten. Im Gegensatz zur isolierten GenAI vermag die „Agentic AI“ mehrstufige Prozesse zu planen, zu orchestrieren und auszuführen, ohne dass sie ständig von menschlicher Intelligenz überwacht werden müsste.

Konsequenzen für die Procurement-Jobs

Diese AI-Agenten verändern die Einkaufsfunktion erheblich. Bislang standen operative Prozesse, manuelle Auswertungen und transaktionale Aufgaben im Vordergrund. Jetzt sind strategische, analytische und koordinatorische Kompetenzen gefragt. Die neue Rolle des Einkaufs lässt sich mit fünf Merkmalen umschreiben:

Orchestrierender Entscheider

Agentic AI übernimmt repetitive Aufgaben wie Request for Information (RFI) oder Request for Proposal (RFP), sie recherchiert geeignete Lieferanten, analysiert Verträge, bewertet Risiken und generiert Benchmarks. Damit hat der Einkäufer Zeit für höherwertige Aufgaben wie die Interpretation von Daten, das Stakeholder-Management oder die Adaption seines Bereichs an die Unternehmensstrategie.

Daten-kompetente Instanz

Dank KI hat der Einkauf schnellen Zugriff auf konsolidierte, dynamische und qualitativ bewertete Informationen zu Preisen, ESG-Risiken sowie Markttrends, Lieferfähigkeit und Vertragsinhalten. Der Einkäufer ist die „daten-kompetente Instanz“. Er evaluiert die Vorschläge der Maschine, reichert sie mit seinem Kontextwissen an und trifft letztlich die Entscheidung.

Gestalter von Wertschöpfungsketten

Die Entlastung von rein operativen Tätigkeiten ermöglicht es dem Einkauf, sich stärker auf die Wertbeiträge zu konzentrieren, indem er beispielsweise Innovationspartnerschaften mit Lieferanten eingeht, Risikoprävention betreibt, Nachhaltigkeitsstrategien entwickelt, die Total Cost of Ownership (TCO) verbessert und systematisch neue Potenziale identifiziert.

Analytiker und Kommunikator

Neben klassischem Verhandlungsgeschick sind künftig Fähigkeiten im Umgang mit Daten sowie analytisches Denken, interdisziplinäre Kommunikation und technologische Offenheit gefordert. Der Umgang mit KI-Systemen verlangt ein grundlegendes Verständnis von deren Funktionsweise und Grenzen, um die richtigen Fragen stellen zu können.

Partner der Maschine

Den klassischen Category Manager dürfte es befremden, wenn heute AI-Agenten mit AI-Agenten die Lieferbedingungen aushandeln. Aber das Grundprinzip bleibt dasselbe - nur dass die Maschine dem Menschen die Kleinarbeit abnimmt. Ein guter Einkäufer wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein guter Manager von AI-Agenten und Orchestrator von elektronischen Marktplätzen sein. Die Technik erweitert seinen Handlungsspielraum und beschafft ihm die Informationen, die er für schnelle und gute Entscheidungen braucht.

Fazit

Die KI als Arbeitsplatzvernichterin zu dämonisieren, ist weit verbreitet, aber falsch. Nach den aktuellen Prognosen des World Economic Forum schafft sie sogar mehr Jobs als sie nimmt. Allerdings wirkt sie sich auf die Kompetenzprofile aus: Die Rolle des Einkaufs besteht nicht in der transaktionsorientierten Abwicklung von Prozessen, sondern in der datengestützten Steuerung der Lieferketten. Mittelfristig zielt sie auf ein strategisches „Business Value Management“, das zwischen den internen Anforderungen, der unternehmenseigenen Innovationskraft, dem Markt und den externen Einflüssen auf die Lieferketten vermittelt.

Darauf sollten die Unternehmen ihre Einkaufsorganisationen vorbereiten, indem sie heute schon Berufsbilder wie Supplier Relationship Manager oder Supplier Risk Manager entwickeln. In diesem Arbeitsumfeld sind typisch menschliche Fähigkeiten gefragter denn je: Führungskompetenz, emotionale Intelligenz, Kreativität, kritisches Denken und die Fähigkeiten zum Lösen komplexer Probleme