Agentic AI in der Beschaffung

Maschinen handeln, Menschen gestalten

KI-Agenten übernehmen zunehmend Routineaufgaben, überwachen Risiken und verhandeln sogar eigenständig. Welche Basis es dafür braucht, erklärt Gopinath Polavarapu, CDAO von Jaggaer.

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KI-Agenten erledigen im Einkauf Routineaufgaben und verhandeln sogar. Doch dafür braucht es bestimmte Voraussetzungen.
KI-Agenten erledigen im Einkauf Routineaufgaben und verhandeln sogar. Doch dafür braucht es bestimmte Voraussetzungen.

TECHNIK + EINKAUF: Herr Polavarapu, welche großen Herausforderungen sehen Sie derzeit für Beschaffung und Lieferketten?

Lässt man die letzten zehn oder zwanzig Jahre Revue passieren, so sieht man: Die Zeiten, in denen Unternehmen zunehmend unter Druck standen, folgten wie Wellen aufeinander. Aktuell stehen wir nicht weniger als drei „Superwellen“ gegenüber:

  1. Extrem hohe Erwartungen – Millennials und GenZ sind in den Führungsetagen angekommen und legen mit ihren Erwartungen die Regeln fest. Ein B2B-Einkauf muss heute so reibungslos funktionieren wie One-Click-Shopping auf dem Smartphone. Und bei Sourcing-Entscheidungen wollen sie mitreden.
  2. Komplexität auf neuem Niveau – Früher war alles etwas überschaubarer, auch die Anforderungen; heute werden Produkte mit Services, Datenfeeds und Upgrade-Pfaden gebündelt und angereichert. Lieferanten entwickeln sich zu Partnern im Ökosystem und stehen selbst im direkten Kundenkontakt. Um solche Netzwerke zu steuern, braucht es neue Strategien und Echtzeit-Analysen.
  3. Supply-Chain-Kollaboration – Der Einkauf hat sich vom Kostenwächter zum Architekten der Wertschöpfung gewandelt. Um Mehrwert zu generieren, werden Supply Chains heute gemeinsam mit Lieferanten, Kunden und sogar Wettbewerbern entwickelt.

Wie wichtig ist KI im Procurement?

 KI steht nicht nur im Mittelpunkt der Berichterstattung, sie ist die treibende Kraft. Studien belegen, dass 65 % der CPOs Budget für KI bereitgestellt haben, und laut Deloitte evaluieren neun von zehn Unternehmen GenAI-Pilotprojekte. Ob die Einführung erfolgreich ist, hängt jedoch von guten Daten ab. Denn: Schlechte Daten führen zu schlechten Entscheidungen.

Der erste Schritt ist daher, die Daten im gesamten Netzwerk zu bereinigen und dabei Ausgaben-, Lieferanten- und Vertragsdaten zu vereinheitlichen. Erst dann kommen die Agenten ins Spiel. Sie durchsuchen Live-ESG- und Risiko-Feeds und ermöglichen damit intelligente Lieferantenbewertungen. All dies verkürzt den Onboarding-Prozess erheblich. KI-Agenten führen Monte-Carlo-„Was-wäre-wenn"-Szenarien entlang der Supply Chain durch und senken so Lagerbestände um bis zu 30 %.

Sie verhandeln RFx sowie Zahlungen selbständig und verringern manuelle Eingriffe um bis zu 70 %. Agenten überwachen Verträge und holen damit 1 bis 2 % der jährlichen Ausgaben wieder rein, die durch Leakage verloren gehen. Wenn die Basis stimmt, kann sich der Mensch ganz der Strategieentwicklung widmen.

 

Welche Vision verfolgt Jaggaer bei der Vereinfachung von Beschaffungsprozessen?

KI ist das zentrale Element unserer Firmenstrategie. Dabei ist es uns allerdings wichtig, über den GenAI-Hype hinauszublicken. Ja, generative KI unterstützt beim Verfassen von Spezifikationen und beschleunigt Freigabeprozesse. Doch unser eigentliches Ziel ist eine Belegschaft aus Software-Agenten, die komplette Beschaffungszyklen eigenständig abwickelt – von der Verhandlung bis zur Zahlung. Deshalb haben wir JAI entwickelt, unsere vollständig Agenten-basierte KI-Plattform. Sie agiert als intelligenter, proaktiver Partner für schnellere Entscheidungen, automatisierte Workflows und vieles mehr.

Aber ob der Sprung zu einem Team aus KI-Agenten gelingt, hängt wesentlich von der Datenhygiene ab. Um die Transformation von isolierten ERP-Datensilos hin zur netzwerkzentrierten Ressourcenplanung zu ermöglichen, bereinigt und verbindet Jaggaer Ausgaben-, Lieferanten- und Vertragsdaten. Damit verfügt die KI über eine solide Lerngrundlage. Und sobald dieses Fundament steht, wird aus isolierten Anwendungsfällen eine echte End-to-End-Automatisierung. Menschen stellen Anfragen an eine App, ein Agent antwortet – und letztendlich werden Agenten direkt miteinander interagieren. 

Ziel ist es dabei nicht, Menschen aus ihren Jobs zu verdrängen. Beschaffungsexperten sollen vielmehr von Routineaufgaben entlastet werden, um sich als strategische Insight-Partner zu etablieren. Kurz gesagt: Unsere Vision verbindet saubere Daten mit autonomen Agenten, damit Menschen sich auf größere und wertschöpfende Aufgaben konzentrieren können.

Wie unterstützt JAGGAER Beschaffungsteams im ESG- und Risikomanagement?

 ESG und Risiken wirken sich geopolitisch, wirtschaftlich und ökologisch aus. Wir gehen das auf zwei Ebenen an. Zum einen integrieren wir kuratierte Datenfeeds spezialisierter Partner für CO2-Metriken, geopolitische Risikosignale oder Bonitätsbewertungen in unsere netzwerkzentrierte Plattform. Damit verfügt das Procurement über eine Single Source of Truth und kann vorausschauend planen.

Zum anderen generieren KI-gesteuerte Apps aus diesen Daten in Echtzeit Handlungsempfehlungen. Sie markieren beispielsweise Ausgaben-Hotspots, steuern Warengruppen-Strategien, screenen Lieferanten und schlagen Vertragsklauseln vor – sobald der operative Betrieb vom Kurs abweicht. Das Ergebnis geht weit über das Abhaken von Compliance-Vorgaben hinaus. Indem Probleme frühzeitig sichtbar werden, lässt sich schnell gegensteuern und Beschaffungsteams haben gegenüber dem Wettbewerb die Nase vorn. ESG und Risikomanagement wandeln sich damit vom Kostentreiber zum Wettbewerbsvorteil. 

 Welche Rolle spielen Partner im Procurement?

Datenpartner sind unerlässlich und entscheidend für den Erfolg in der Beschaffung – ob es um Spezialanbieter für CO2-Bewertungen, Risikoanalysen oder Kreditauskünfte geht. Sie werden ergänzt durch ESG-Experten und Echtzeit-Risikomonitoring. Verknüpft man diese Daten mit einer Plattform für den gesamten Beschaffungsprozess, verfügen Einkäufer über alle benötigten Informationen. 

Darüber hinaus arbeiten wir mit führenden Beratungshäusern zusammen, um den Roll-out von Best Practices und eine umfassende digitale Transformation zu beschleunigen. Oder in einem Satz: Mit einem starken Partner-Ökosystem wird aus großartiger Software messbarer Beschaffungserfolg.

 Wie sehen Ihre Pläne als Chief Digital and AI Officer für die kommenden 12 Monate aus?

 Ich habe einen 12-Monats-Fahrplan als CDAO, man könnte auch sagen als „Chief Disruption Officer“. Mein erstes Ziel ist es, alle Schlüsselpositionen — CFO, Chief Supply Chain Officer, ESG-Verantwortliche, IT — auf eine Reihe klarer, aber sehr ehrgeiziger Top-Prioritäten auszurichten. Die Beschaffung ist die Bühne, und das ganze Führungsorchester muss im Einklang spielen.

 Sobald diese Basis gelegt ist, werde ich JAI in den operativen Betrieb überführen. Wir rollen JAI bewusst in drei Schritten aus und ich werde sicherstellen, dass jede dieser drei Phasen sauber umgesetzt wird und einen ROI bringt, bevor wir zur nächsten übergehen:

 Assist umfasst zunächst einen kontextbezogenen Helpdesk, der Fragen zu Richtlinien beantwortet und Ausgaben überwacht. Darauf folgt Copilot. Agenten arbeiten im Hintergrund, erstellen RFx-Entwürfe, redigieren Verträge und stoßen Freigaben an. Autopilot bietet schließlich volle Autonomie bei hochwertigen Workflows wie Tail-Spend-Management, Intake-Orchestrierung, Rechnungsautomatisierung, dynamischer Lieferantenauswahl oder bei der Stücklisten-Optimierung (Bill of Materials, BOM).

Der Autor: Gopinath Polavarapu

Gopinath Polavarapu

Gopinath „GP“ Polavarapu ist Chief AI and Digital Strategy Officer (CDAO) bei Jaggaer. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Implementierung neuer Technologien in Unternehmen. So war er unter anderem als Chief Solutions Officer bei Kore.ai sowie bei Zebra und Globecomm tätig. 

Bei Jaggaer leitet er die KI-Strategie des Source-to-Pay- und Supplier-Collaboration-Anbieters. GP teilt als Mentor seine Leidenschaft für Innovation und Technologie auch gerne mit KI-Talenten und setzt sich dafür ein, mithilfe von KI einen grundlegenden Wandel in Unternehmen zu fördern. 

 Gemeinsam mit unserem Chief Product Officer Jon Lawrence werde ich prädiktive Risikosignale und Monte-Carlo-„Was-wäre-wenn"-Analysen in die Suite integrieren. Diese wird zudem Agent-zu-Agent-Verhandlungen erlauben. Damit lassen sich Verträge sozusagen im Schlaf abschließen. Ich will die Disruption wirklich beschleunigen.

 Und schließlich möchte ich das gesamte Unternehmen sowie Kunden und Partner zu JAI-Botschaftern machen. Vom Entwickler bis zum Vertriebsmitarbeiter – jeder wird die Assist-Copilot-Autopilot-Story als Elevator-Pitch oder in einem TikTok-Video präsentieren können.

 Bei alledem gilt: Das Procurement erfindet sich ständig neu. Wir holen daher engmaschig Kunden-Feedback ein, iterieren schnell und lassen Technologie niemals den Business Case überholen. Das gelingt, indem wir agil und neugierig bleiben. Ich bin überzeugt: Mit diesen fünf Zielen wird JAI nicht nur eine Produktsuite, sondern zum Motor für ein modernes Beschaffungswesen.