Exklusiv-Interview Reyher

Sicherheit in der Supply Chain hat ihren Preis

Warum Resilienz nicht kostenneutral ist, wie sie wirtschaftlich tragfähig bleibt und warum der Hebel in den Prozessen liegt, erklären Klaus-Dieter Schmidt (Geschäftsführung) und Hergen Oetjen (Leitung Einkauf) von Reyher.

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Klaus-Dieter Schmidt, Geschäftsführung, und Hergen Oetjen, Leitung Einkauf (v.l.n.r.)
Klaus-Dieter Schmidt, Geschäftsführung, und Hergen Oetjen, Leitung Einkauf (v.r.n.l.)

Als ein führender Großhändler für Verbindungselemente beliefert Reyher von Hamburg aus weltweit Industrieunternehmen.  Klaus-Dieter Schmidt (Geschäftsführung) und Hergen Oetjen (Leitung Einkauf) erklären, warum die heutzutage notwendige Resilienz nicht kostenneutral ist, wie sie wirtschaftlich tragfähig bleibt und warum der Hebel in den Prozessen liegt.

TECHNIK+EINKAUF: Herr Oetjen, als Großhändler ist Reyher weltweit aktiv. Wie wirken sich Geopolitik und Klimarisiken auf Ihre Lieferketten aus?

Oetjen: Unsere Kunden erwarten in der C-Teile-Versorgung eine durchgängig hohe Verfügbarkeit und Qualität. Dafür sorgen wir trotz der wachsenden Risiken. Politische Entscheidungen haben heute einen direkten Einfluss auf unser Geschäft: Handelskonflikte, globalpolitische Spannungen, aber auch Naturkatastrophen wirken sich zunehmend auf die Lieferketten aus. Viele Regionen kämpfen mit Taifunen, Überschwemmungen, Hitzewellen, Erdbeben. Die Zahl der globalen Störfaktoren steigt genauso wie die Komplexität. Auch die Schifffahrt ist betroffen. Aus dieser Herausforderung leiten sich für uns zwei Fragen ab: Wie können wir flexibel und schnell auf sich ändernde Situationen reagieren? Und: Welche Vorkehrungen müssen wir hierfür treffen?

Herr Schmidt, wie reagieren Ihre Kunden auf die globale Unsicherheit?

Schmidt: Unser Anspruch, dass wir immer alles sicher liefern können, hat sich auch in der Versorgungskrise bewährt. Als einer der wenigen Großhändler für Verbindungselemente in Deutschland waren wir durchgängig lieferfähig. Inzwischen hat sich die Lage entspannt, der Preiskampf ist zurück. Gleichzeitig entstehen durch die Diversifikation auf der Beschaffungsseite höhere Kosten. Das betrifft uns ebenso wie unsere Kunden.

Wo liegen Ihre Beschaffungsmärkte?

Oetjen: Je anspruchsvoller ein Produkt, desto regionaler sourcen wir. Je standardisierter die Ware, umso mehr verlagert sich die Beschaffung nach Asien. Jeder Markt hat andere Schwerpunkte: China liefert Volumen, Indien übernimmt auch nachgelagerte Fertigungsschritte, Taiwan ist für seine Spezialisierung auf die Automobilindustrie bekannt. Weitere Lieferländer sind Japan, Korea, Vietnam, Malaysia, die Philippinen und Thailand. An China kann man sehr gut ablesen, wie sich die Politik immer wieder neu positioniert: Die Empfehlungen gingen von De-Coupling, über De-Risking bis zur Diversifizierung. Auch wir verteilen die Risiken auf mehrere Quellen, auf verschiedene Lieferanten und Regionen.

Hat die Versorgungskrise Second Sourcing vorangetrieben?

Schmidt: Um eine Lieferfähigkeit von 99,5 Prozent sicherzustellen, hatten wir schon immer europäische Backups. Das ist bei einem halben Jahr Lieferzeit aus Asien gar nicht anders möglich.

Oetjen: Prognosen können sich in sechs Monaten ändern, durch Konjunktur, Branchentrends oder Veränderungen bei Großkunden. Vieles puffern wir durch unsere Läger ab. Aber nicht alles. Für die Schwankungen brauchen wir europäische Alternativen.

Vita Hergen Oertjen

Hergen Oertjen

Hergen Oetjen ist seit 2003 Prokurist und Leiter Einkauf bei Reyher in Hamburg. Zuvor war Oetjen sieben Jahre im internationalen Einkauf und der Logistik bei BASF tätig, mit Stationen in Shanghai, Mexiko-Stadt und Seoul. 

Er studierte Wirtschaftsingenieurwesen am KIT Karlsruhe und absolvierte zuvor eine duale Ausbildung bei Henkel.

Ist Lokalisierung ein Zukunftsmodell?

Oetjen: Nur begrenzt. Die Beschaffung in Europa ist teuer. Deshalb ist der Anteil der lokal beschafften Materialien sehr fein austariert. Statt von Near-Shoring würde ich eher von Friend-Shoring sprechen: Wir fragen uns, mit welchen Ländern, mit welchen politischen Systemen wollen wir künftig zusammenarbeiten.

Verändert sich dadurch Ihr Sortiment?

Schmidt: Die Anforderungen an unser Sortiment kommen aus dem Markt, von unseren Kunden. Dort bringen wir unser Know-how ein. Unverhandelbar bleibt die Qualität – in Bezug auf das Produkt, die Anlieferung und die Verpackung.

Welche Veränderungen beobachten Sie auf Kundenseite?

Schmidt: Auch bei unseren Kunden gibt es den Trend zur Second Source, um die Lieferketten abzusichern. Wir gewinnen neue Kunden dazu, verlieren aber auch Umsätze. Das allgemeine Bewusstsein für Versorgungssicherheit gewinnt auch bei C-Teilen zunehmend an Priorität.

Oetjen: In der Vergangenheit lag der Fokus vielfach auf einer extrem kostenoptimierten Supply Chain. Das hat die Lieferketten störanfällig gemacht. Jetzt werden Sicherheiten eingebaut. Doch Sicherheit ist nicht umsonst. Deshalb sind die Preise wieder in der Diskussion. Trotzdem dürfen wir im Einkauf nicht zurück zu den früheren eindimensionalen, rein kostengetriebenen Beschaffungsstrategien. Sicherheit gewinnt an Bedeutung.

Vita Klaus-Dieter Schmidt

Klaus-Dieter Schmidt.

Klaus-Dieter Schmidt ist seit 2015 Geschäftsführer bei Reyher. Zuvor leitete er elf Jahre das Produkt- und Qualitätsmanagement des Unternehmens.

Der Diplom-Ingenieur für Luft- und Raumfahrttechnik studierte an der Universität der Bundeswehr München und ist in Fachgremien des FDS, VDI, DGQ, DIN und BME aktiv.

Übernehmen Ihre Kunden die Mehrkosten?

Schmidt: Die Konsequenz aus den Veränderungen ist noch nicht überall angekommen. Sicherheit, Nachhaltigkeit und Emissionstransparenz in der Lieferkette verursachen Mehraufwände. Die Debatte über die Verteilung der Mehrkosten in der Supply Chain ist noch nicht abgeschlossen und unter den gegebenen wirtschaftlichen Bedingungen herausfordernd.

Forden Kunden denn schon einen artikelbezogenen CO2-Fußabdruck?

Schmidt: Die Nachfrage nach artikelbezogenen CO2-Werten ist da und wir können bis Ende des Jahres auch für einen Großteil unserer Produkte einen PCF (Product Carbon Footprint) liefern.

Sind Sie für die CSRD und für CBAM bereit?

Schmidt: Wir sind gut vorbereitet und könnten auch 2026 bereits den politischen Regularien und Vorschriften voll entsprechen. Wir haben im Kundenkreis sehr viele Unternehmen, die an uns die Forderungen aus dem LkSG weitergeben haben, obwohl das Gesetz für uns gar nicht gilt. Deshalb haben wir uns mit der Thematik früh befasst. Arbeits- und Umweltschutz sowie die Einhaltung der Menschenrechte waren für uns schon immer entscheidungsrelevante Aspekte in der Beschaffung.

Oetjen: CBAM bewertet die Emissionen von Rohmaterialien, also von Stahl, Aluminium, Kunststoffen. Schrauben sind die einzigen Down-Stream-Artikel, in deren CO2-Berechnung nicht nur das Rohmaterial, sondern auch die Prozessschritte einfließen sollen. Verformung, Vergütung, Verzinkung, Wärmebehandlung machen - obschon energieintensiv - jedoch nur ca. 20 Prozent des CO2-Fußabdrucks einer Schraube aus, erhöhen die Komplexität der Datenerfassung aber enorm. Viele Lieferanten sind überfordert. Deshalb setzen wir – auch in Zusammenarbeit mit EFDA – auf eine deutliche Reduzierung der Komplexität. Wir begrüßen es, dass wir im Rahmen des EU-Omnibusverfahrens sehr wahrscheinlich mit vereinfachten Daten arbeiten dürfen und der Verarbeitungsanteil ggf. erstmal ganz aus der Bilanzierung herausgenommen wird.

Das Unternehmen: Reyher

Reyher gehört zu den führenden Großhändlern für Verbindungselemente und Befestigungstechnik in Europa. Das Unternehmen beliefert mit über 130.000 Artikeln sofort verfügbar auf Lager Industrie und Handel und bietet maßgeschneiderte Versorgungslösungen. Rund 950 Mitarbeitende arbeiten am Hauptsitz in Hamburg.

Wie weit sind Sie mit der Datenerhebung?

Oetjen: Beim Carbon-Accounting sind wir weit vorangekommen. Die Zahlungen sind zwar auf 2027 verschoben, aber die Bilanzierung startet 2026. Das heißt, die Emissionen für 2026 zählen bereits, nur das Geld dafür fließt später, was vielen Kunden in der Form noch nicht bewusst ist. Auch der Preis je importierter Tonne CO2-Äquivalent steigt jährlich. Die CO2-Werte werden unsere Einkaufsentscheidungen künftig mit beeinflussen.

Wie reagieren Ihre Lieferanten auf die Anforderungen?

Schmidt: Sehr viele Lieferanten investieren in eigene Windkraft- und Solaranlagen, aber auch in die Wasseraufbereitung etwa in Asien. Das ist eine direkte Folge der Regulierung und eine Entwicklung, die wir begrüßen und unterstützen.

Inwiefern werden Sie Ihr Risikomanagement verändern?

Oetjen: In der Vergangenheit ging es vor allem um Störungen bei Lieferanten, heute geht es auch um Risiken, die zwar relativ unwahrscheinlich in ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit sind, die aber einen sehr hohen Impact hätten. Diese „schwarzen Schwäne“ muss man rechtzeitig erkennen und anders managen. Für mehr Geschwindigkeit und Flexibilität und um die Informationen schnell in die Organisation zu bekommen, wird sich unser Risikomanagement deshalb grundlegend verändern: Dazu gehören Echtzeit-Monitoring, KI-basierte Analytik und wir müssen uns organisatorisch anpassen.

Wie sehen Ihre Lieferantenbeziehungen aus?

Oetjen: Die Mehrzahl unserer Lieferanten sind familiengeführte Unternehmen mit einer überschaubaren Mitarbeiterzahl. Wenn Sie mit Familienunternehmen eine langfristige Beziehung aufbauen, entsteht ein großes Vertrauen, das sich im Idealfall auch auf die Nachfolgegeneration überträgt. Hinter all dem steht die Frage: Warum sollte ein Lieferant auch in einer Krise Reyher bevorzugt beliefern? Und: Was müssen wir tun, damit wir die Bindung so aufbauen und erhalten, dass es sich für den Lieferanten lohnt, mit uns zusammenzuarbeiten? Dazu gehören Faktoren wie Zuverlässigkeit, pünktliche Bezahlung, Fairness, Offenheit. Gleichzeitig stellen wir hohe Anforderungen an die Produktqualität, an die Einhaltung der Normen und die Zuverlässigkeit. Wir erwarten, dass auf Europaletten verschifft wird, die wir im Kreislauf führen und zum Beispiel auch nach Asien zurückschicken. Insgesamt macht uns das für die Lieferanten zu einer starken Referenz.

Sicherheit, Nachhaltigkeit und Emissionstransparenz verursachen Mehraufwände. Die Debatte über die Verteilung der Mehrkosten ist noch nicht abgeschlossen.

Klaus-Dieter Schmidt

Ein hoher Qualitätsanspruch erfordert viel Austausch.

Schmidt: Deshalb ist das Lieferantenmanagement ein zentraler Baustein des Einkaufs. Da sind wir sehr penibel und gehen bis in die Details der Verpackungsgüte: Schrauben sind schwer, dass Kartons reißen und 1000 Muttern auf dem Fabrikboden landen, kann man keinem Kunden zumuten. Wir dulden keine Abweichungen und messen im Wareneingang im Zweifel auch mal den Flankenwinkel von Gewindestangen nach. Durch die Anforderungen setzen wir Maßstäbe im Beschaffungsmarkt.

Wie entwickeln sich die Bestände?

Schmidt: Die Industrie hat die hohen Bestände aus der Krise abgebaut, bestellt wieder normal, verlangt aber zunehmend auf unserer Seite vertraglich garantierte Sicherheitsbestände. Kanban-Verträge laufen tendenziell länger, statt einem Jahr eher drei Jahre. Mit der Kanban-Anbindung wählt der Kunde den Lieferweg mit der höchsten Sicherheit und Nachhaltigkeit. Die Versorgung übernehmen wir: Die Systeme vereinfachen das C-Teile-Management erheblich und die Materialien werden in Wechselbehältern transportiert.

Inwiefern beeinflussen Kundenwünsche Ihr Sortiment?

Oetjen: Die Kundenanforderungen werden individueller, die Artikelvielfalt wächst – und damit auch der Lagerplatzbedarf. In dieser Situation gilt es für uns, weiter zu optimieren. Die Sicherheit in den Lieferketten und die Verfügbarkeit müssen wir trotzdem gewährleisten. Deshalb integrieren wir die Lieferanten über Forecasts früher in unsere Planung. Skaleneffekte erzielen wir, indem wir auf Rohling-Basis planen und erst später in die Spezifizierung gehen. So werden die Lieferanten zu einem aktiven Teil unserer Wertschöpfungskette.

Was kostet die Individualisierung?

Schmidt: Die Kosten entstehen nicht im Material, sondern im Prozess. Viele Kunden nutzen Hunderte unterschiedliche Schrauben oft für ähnliche Anwendungen. In der Fertigung und der Materialwirtschaft erzeugt das sehr viel Aufwand. Durch Standardisierung sinkt die Komplexität. Wir führen mit Kunden Standardisierungsprojekte durch, wohlwissend, dass die Umsetzung in Stücklisten und Werkzeugen herausfordernd ist und eine abteilungsübergreifende Zusammenarbeit erfordert. Die Effekte sind nicht zu unterschätzen: In einem Projekt ließen sich zum Beispiel 500 unterschiedliche Schrauben durch einen einzigen Typ ersetzen! Das größte Einsparpotenzial liegt im intelligenten Einsatz von Verbindungselementen und nicht im Stückpreis.

Wo sehen Sie weiteres Optimierungspotenzial?

Oetjen: In der Logistik. Wir setzen auf nachhaltige Ladungsträgernutzung, volle Paletten, keine Stretchfolien, keine zusätzlichen Metallbänder, stattdessen Holzrahmen, die wir im Kreislauf führen und volle Container. Das spart Kosten und schont Ressourcen.

Welche Rolle spielt KI?

Schmidt: Wir testen viele Anwendungsfälle. Drei Beispiele: Viele Bestellungen erreichen uns als ausformulierte E-Mail oder PDF. Diese „Prosatexte“ lesen wir mit einer KI aus und erzeugen automatische SAP-Bestellungen. Im Wareneingang testen wir KI-gestützte Bildererkennung zum Abgleich der Etiketten mit dem Inhalt einer Lieferung. Mit Co-Bots wollen wir Messreihen automatisieren, sodass Qualitätsprüfungen auch nachts laufen können.

Sicherheit, Nachhaltigkeit und Emissionstransparenz verursachen Mehraufwände. Die Debatte über die Verteilung der Mehrkosten ist noch nicht abgeschlossen.

Hergen Oetjen

Oetjen: Auch bei den Lieferzeiten gibt es immer wieder Differenzen, die zu einer fehlerhaften Risikobewertung führen. KI-Modelle helfen, die realistische Dauer aus den Systemdaten, den Lieferantenangaben und unserer Erfahrung zu erkennen. Bei vielen Projekten geht es darum, die Daten, die wir haben, intelligent zu nutzen.

Hilft KI beim Fachkräftemangel?

Schmidt: Davon sind wir überzeugt. Wir bauen nach und nach eine Art Reyher-Wiki auf, eine Datenbank, die unser Wissen und unsere Erfahrung mit Routinen und Sonderfällen speichert und allen zugänglich macht. Startpunkt ist die Technik-Hotline. Allerdings sind die DIN-Normtabellen bislang kaum maschinenlesbar, weshalb KI-Modelle hier noch an Grenzen stoßen.

Wie schaffen Sie mehr Transparenz?

Schmidt: Unter anderem mit SAP S/4HANA, das wir wohl als erstes Unternehmen in unserer Branche eingeführt haben. Wir können jede Charge in unserem Warenwirtschaftssystem lückenlos zurückverfolgen. Wir wissen, welche Schrauben auf welchem Lagerplatz welchen Ursprung haben, in welchem Land, von welchem Lieferanten die Verarbeitung erfolgte, aus welcher Schmelze der Stahl und woher der Rohstoff kommt. Wir können die CO2-Werte und alle Prüfzertifikate bis zum Lagerplatz nachvollziehen. Das System leisten wir uns, weil wir überzeugt sind, dass es eines der sichersten und schnellsten Systeme auf dem Markt ist.