Markus Nigg (links) und Ulrich Viethen (rechts) von Murrelektronik im Interview.(Bild: Rüdiger J. Vogel)
Wie sich Schwankungen auf Bedarfs- und Lieferseite erfolgreich managen lassen, erläutern CEO Dr. Ulrich Viethen und Vice President Markus Nigg von Murrelektronik.
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Murrelektronik begegnet den Zyklen der Elektronikindustrie mit intelligenter Bevorratung, fein justiertem S&OP und tiefem Marktverständnis. Wie sich Schwankungen auf Bedarfs- und Lieferseite erfolgreich managen lassen, erläutern CEO Dr. Ulrich Viethen und Vice President Markus Nigg.
TECHNIK+EINKAUF: Herr Viethen, Murrelektronik liefert Installationstechnik für Maschinen und Anlagen, unter anderem für die Intralogistik. Wie begegnen Sie dem internationalen Kosten- und Wettbewerbsdruck?
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Ulrich Viethen: Innovation ist unser zentraler Treiber, ausgehend vom Bedarf unserer Kunden. Unsere dezentrale Installationstechnik ersetzt Schaltschränke, vereinfacht die Anlageninstallation, spart damit Platz und Kosten. Das ist unser Beitrag, mit einem tiefen Verständnis für die Herausforderungen des Kunden, zum Aufschwung der heimischen Industrie.
Wie übersetzen Sie den Kundenbedarf in Ihre Supply Chain?
Markus Nigg: Wir betrachten die komplette Applikation. Kommt ein Lieferant z.B. mit einer neuen Kamera, simulieren wir die Endanwendung und entwickeln daraufhin unsere Produkte. Wir leiten die Spezifikation aus der Zielanwendung, aus realen Testszenarien ab. Es geht nie nur um unseren Maschinenbaukunden, sondern immer auch um die Endanwendung: Wie schnell läuft das Band, wie sind die Strichcodes beschaffen? Daraus entsteht das elektrische Installationskonzept.
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(Bild: Ruediger J. Vogel)
Vita Markus Nigg
Markus Niggstudierte an der NBT Buchs in der Schweiz. Seine Laufbahn begann der Ingenieur bei Baumer Electric, zuletzt als Entwicklungsleiter für Druck-, Kraft- und Dehnungssensorik. Danach führte Nigg als Geschäftsführer mehrere Unternehmen der Branche, darunter YACOUB Automation. Seit 2020 gehört er zur Geschäftsführung der Murrelektronik GmbH und leitet als Vice President die Global Business Unit Automation.
Ihr Unternehmen verkauft 50.000 verschiedene Produkte. Was bedeutet diese Vielfalt für Ihre Lieferkette?
Nigg: Wir übertragen unsere Lösungen, etwa aus der Intralogistik, in andere Branchen wie Automotive. Im Bereich Automation arbeiten wir mit rund 300 Rohmaterialien. Unsere Hauptwarengruppen sind elektronische Bauteile und Kabel, dazu Granulate und Kontakte. Die Herausforderung ist weniger die Varianz, als die langen Lieferzeiten im Elektronikbereich. Aus diesem Grund haben wir für Sales, Inventory and Operations einen integrierten Planungsprozess eingeführt.
Was hat sich durch den S&OP verändert?
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Nigg: Wir bestellen und bevorraten absolut transparent und kontrolliert. Nach dem ersten Pandemieschock 2020 hatten wir einen schnellen Hochlauf und haben festgestellt, dass wir früher sourcen und vor allem die Langläufer rechtzeitig beschaffen müssen. Heute laufen verschiedene Szenarien im Hintergrund und wir bewerten jedes Material und Produkt monatlich. So bleiben wir handlungsfähig. Der strategische Einkauf ist in die Produktentwicklung eingebunden. Die Hardwarelieferanten stehen dadurch früher fest.
Die schaltschranklose Installation wird die Feldtechnik verändern. Für Murrelektronik erwarten wir eine Sonderkonjunktur.
Ulrich Viethen
Wie ist die Versorgungslage im Sommer 2025? Wie entwickelt sich die Nachfrage?
Viethen: Die Versorgungssicherheit ist aktuell hoch. Gleichzeitig rechnen wir mit einem Aufschwung. Die Frage ist, wie dieser aussieht und wie wir uns optimal darauf einstellen. 2024 hatten wir im Markt eine gewisse Depression. Seit Ende des Jahres sehen wir Wachstum. Unsere dezentrale elektrische Installationstechnik mit Steckverbindern als strategischem Produkt wird die Feldtechnik verändern. Daraus ergeben sich auf einfachem Weg Hunderte Konfigurationen und neue Lösungen. Deshalb glauben wir, dass wir einer Sonderkonjunktur unterliegen werden.
Wie steuern Sie Schwankungen in der Lieferkette?
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Nigg: Die Herausforderungen sind vielfältig. Zuerst war da die Knappheit. Wir brauchten alternative Lieferquellen und es kam zu initialen Lieferungen und Redesigns. Die großen Volumina kamen verzögert. Teilweise arbeiten wir heute noch mit diesen Beständen. Wir haben das Backlog analysiert und die Bevorratung mit dem Bedarf abgeglichen. Den Nachfragerückgang 2024 haben wir anhand von Marktindikatoren früh erkannt. So konnten wir die verbrauchsgesteuerten Materialien reduzieren und verhindern, dass uns die Lager volllaufen. Deshalb hat uns die Krise vergleichsweise milde getroffen.
(Bild: Rüdiger J. Vogel)
Vita Ulrich Viethen
Ulrich Viethen studierte und promovierte an der TU München. Danach startete der Maschinenbauingenieur bei Joh. Vaillant in die Industrie, wechselte zu Siemens und arbeitete dort zuletzt in der Medizintechnik, in Deutschland und den USA. Als Geschäftsführer leitete er u.a. die Unternehmen Johann Borgers und AMK. Seit 2019 führt Viethen als CEO die Murrelektronik Gruppe.
Wie wichtig ist die Abstimmung mit den Lieferanten?
Nigg: Besonders bei hohen Beständen pflegen wir seit fast zwei Jahren einen engen Austausch. Je nach Vertragslaufzeit und -volumen scannen wir für jedes Material den Bedarf und Bestand. Anlagenbau ist ein Projektgeschäft: Ist der Auftrag da, muss die Verfügbarkeit gewährleistet sein, selbst wenn wir von diesem Kunden länger nicht beauftragt wurden und dieser Hauptabnehmer für ein Produkt ist. Deshalb kennen wir die Kundenstruktur hinter jedem Artikel und daraus abgeleitet die Struktur der Rohmaterialien. Wir sehen, was kritisch werden kann und haben für Risikomaterialen eine spezielle Bevorratungsstrategie. Unser gutes Verhältnis zu Lieferanten, auf das wir großen Wert legen, zahlt sich aus.
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Sie justieren Ihre Supply Chain sehr fein. War das schon immer so?
Viethen: Wir haben unsere Prozesse massiv verändert und wir haben viel gelernt. Ein Beispiel: Wir haben intern die Einkaufsbefugnisse signifikant verfeinert und den Entscheidungsspielraum erweitert. Disponenten durften zum Beispiel fehlende Teile selbstständig elektronisch bestellen. Solche Maßnahmen haben uns, zumindest nach Auffassung unserer Kunden, in der Lieferkrise zu einem der lieferfähigsten Anbieter im Installationsbereich gemacht. Das spüren wir in der Loyalität der Kunden bis heute.
Wir denken Bevorratungsstrategien und Redesigns von Anfang an mit. So bleiben wir entscheidungs- und lieferfähig.
Markus Nigg
Können Ihre Lieferanten dem Auf und Ab der Nachfrage folgen?
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Viethen: Kommunikation ist wesentlich, je nach Phase und Kritikalität mehrmals in der Woche oder sogar täglich. Der Lieferant muss wissen, was wir im Markt sehen, damit er die richtigen Dispositionen für uns treffen kann. Das lässt sich nicht automatisieren. Es braucht auch persönliche Kommunikation für die Transparenz. Wir laden Lieferanten ein und zeigen ihnen offen unsere Bestände und Verbräuche.
Offene Bücher in Richtung Lieferant?
Viethen: Unsere Wachstumsambitionen sind enorm. Die Zyklizität können wir nicht beeinflussen. Daher braucht es eine engere Verbindung zu bestimmten Lieferanten als zu dessen anderen Kunden. Wir hoffen, dass Zuverlässigkeit und ein Einblick in das, was passiert, wichtige Elemente sind. Trotzdem sind wir mit Blick auf die Volumina in der Konsumelektronik nicht der größte Abnehmer und das macht es nicht leichter.
Nigg: Bei Konnektoren und Kabeln ist die Situation eine andere. Hier gibt es eine breite, kompetitive Lieferantenschaft. Wir haben einen gewissen Einfluss auf das Bestellverhalten der Lieferanten und können Ressourcen umsteuern. In der Chipindustrie geht das nicht.
Das Unternehmen: Murrelektronik
Murrelektronik gilt als Vorreiter für dezentrale Installation und Automatisierung. Das Angebot reicht von Steckverbindern über I/O-Systeme, Stromversorgungen und Netzwerklösungen bis zu modularen, einfach installierbaren Komplettlösungen für die Automatisierung ohne Schaltschrank. Das Familienunternehmen mit Sitz in Oppenweiler bei Stuttgart feiert 2025 seinen 50. Geburtstag, beschäftigt weltweit mehr als 3.000 Mitarbeiter und betreibt fünf Produktions- und elf Logistikstandorte.
Wie problematisch sind die US-Zölle?
Viethen: Komplexer als Zölle sind Kundenanforderungen, die Materialien aus bestimmten Ursprungsländern ausschließen. Das ist aufwändig, vor allem dem Großhandel schwer zu vermitteln und schränkt die technischen Möglichkeiten ein. Jede Region(en) hat ihre spezifischen Fähigkeiten. Die Wertschätzung dieser Fähigkeiten sollte aus unserer Sicht weiterhin möglich sein.
Herr Nigg, Sie verantworten Technik und Einkauf in Personalunion. Warum ist ein dezentraler strategischer Einkauf ein Vorteil?
Nigg: Durch den direkten Draht des Einkaufs zur Entwicklung haben wir ganz andere Möglichkeiten für Redesigns. In der Lieferkrise war das ein riesiger Vorteil. Unsere Zusammenarbeit läuft nicht in über ein übergeordnetes Board, sondern über Live-Daten zu Aufträgen, Lagerbeständen und Lieferzeiten.
Viethen: Wir wissen jederzeit, welcher Deckungsbeitrag mit welchem Szenario verbunden ist und können ergebnisorientiert entscheiden, in welchem Produkt wir ein Vorprodukt einsetzen.
Was heißt das für Ihr Bestellverhalten?
Nigg: Weil wir Umsatzanteil und Marge jedes Materials kennen, steuern wir die Bestände proaktiver. Sobald sich zum Beispiel ein Bottleneck löst, füllen wir die Pipeline, denn oftmals steigen die Verbräuche (dann) parallel. Das antizipieren wir und sorgen gleichzeitig dafür, dass große Verbräuche nicht alle anderen Materialien mitziehen.
Was bleibt herausfordernd?
Nigg: Viele Bauteile müssen wir anderthalb Jahre im Voraus bestellen, damit sich der Lieferant bei seinem Unterlieferanten einen Produktionsslot sichern kann. Manchmal müssen wir Abnahmen trotz hoher Verbräuche stoppen und Lieferanten vermitteln, dass wir das Material nur als vorweggenommenen Umsatz abnehmen. Trotzdem müssen wir nahtlos anschließen können. Über Testkäufe prüfen wir, ob die Supply Chain hinter den Planlieferzeiten steht. Problematisch wird es, wenn sich Verbräuche plötzlich verdreifachen, was bei manchen Bauteilen schon passiert ist. Dann haben wir eigentlich 180 Tage Bestand, kämen dann aber ohne Nachbestellung für 120 Tage in eine Unterdeckung. Transparenz ist deshalb essenziell.
Viethen: Für unsere Branche sind solche Ausschläge schon immer üblich. Die aktuelle Multikrisensituation hat ihre Heftigkeit aber nochmals verstärkt. Überall, wo Elektronik im Spiel ist, braucht der Einkauf eine besondere Marktkenntnis und Fähigkeit. Das ist eine spezifische Situation und sie erklärt, warum sich für uns der dezentrale Einkauf als sinnvoll erweist.
Nigg: Früher haben wir den Bestand über klassische KPI gemanagt. Heute wissen wir: Es gibt keinen absoluten Wert, es hängt immer von unserem Knowhow ab. Welche Branchen mit welchen Produkten laufen gut? Wann erwarten wir eine Dynamik? Wo sind wir flexibel, wo haben wir lange Lieferzeiten?
Wie wichtig ist Bestandsmanagement für Ihr Unternehmen?
Viethen: Es ist auf der obersten Ebene eine wesentliche Regelgröße, auch weil sich der Markt ständig verändert. Manche Produkte verkaufen sich seit Jahren stabil wachsend. Andere erschließen neue Trends. Darunter fallen unsere Anwendungen in Schutzklasse IP67 für die Logistik mit riesigen Zuwachsraten, für neue Intralogistikkonzepte mit langen Tunneln, niedriger Deckenhöhe, wenig Platz. Sie verdoppeln den Output auf der gleichen Fläche und steigern die Reaktionsfähigkeit der Branche um ein Vielfaches.
Wie finden Sie Lieferpartner für solche Neuentwicklungen?
Nigg: Wir bleiben möglichst loyal bei unseren bewährten Bestandslieferanten. Je nach Produkt wechseln die Schlüssellieferanten. Kommen sie bei dem hohen Tempo und Zuwachs nicht mit, evaluieren wir Alternativen. Schwierig wird es, wenn Kunden an großen Bieterverfahren teilnehmen. Wir wissen nie, ob sie den Zuschlag erhalten. Manchmal erhalten wir für das gleiche Projekt gleich mehrere Anfragen. So geht es auch unseren Lieferanten. Deshalb müssen Prognosen sorgfältig abgewogen werden.
Wie stark binden Sie Lieferanten in Ihre Innovationen ein?
Viethen: Wir gleichen beiderseitig Roadmaps ab – auch, um einen Einfluss darauf zu nehmen, welche Chips produziert werden. Wie viel Wissen wir in diesem Prozess weitergeben, ist eine Frage des Vertrauens. Man muss die Kultur des Lieferanten und die seines Umfelds gut verstehen.
Welche Trends sehen Sie?
Viethen: Wir glauben, dass die elektrische Antriebstechnik in völlig neue Dimensionen vorstößt und viel simpler installierbar wird, so dass der Trend in Richtung elektrische Automatisierung gehen kann, weg von anderen Energieträgern. Komplexe Sensorik und Sensorintegration wird dominieren. Diesen Megatrend beobachten wir bereits in der Supply Chain und der sich anbahnenden Sourcing-Umgebung. Durch unsere Erfahrung mit Dezentralisierung werden wir hier eine besondere Rolle spielen. Sobald die elektrische Antriebstechnik den perfekten Formfaktor hat und die Preise weiter gefallen sind, wird es im Markt einen großen Sprung geben.
Nigg: Je digitaler die Anwendungen, desto kürzer die Entwicklungszyklen. Gleichzeitig braucht der Maschinenbau eine stabile Technologiebasis. Die Zyklen werden also nicht überall kürzer. Busprotokolle etwa müssen langfristig gepflegt werden, darum muss man sich auf Verbandsebene kümmern. Um Produkte zu entwickeln, die über ihre Lebenszeit lieferbar bleiben, denken wir Bevorratungsstrategie und Redesigns von Anfang an mit. So bleiben wir entscheidungs- und lieferfähig.
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