Die Türkei ist ein beliebter Nearshoring-Standort für viele international aufgestellte Industrieunternehmen. Doch die Inflation der Lira, die seit vergangenem September kontinuierlich über 60 Prozent liegt, ist ein gravierendes Problem, denn sie stört die Preisgefüge in den Lieferketten. Kunden türkischer Unternehmen stellen sich daher die Frage „Bleiben oder Gehen?“ Wer sich für’s Bleiben entscheidet, sollte sich vor allen Dingen um das Risikomanagement kümmern, um etwaigen Schieflagen vorzubeugen.
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte die Zügel lange locker gelassen, da er befürchtete, eine striktere Geldpolitik könnte das Wachstum in der Türkei gefährden. Nach seiner Wiederwahl im Mai 2023 indes ernannte er den renommierten Ökonom Mehmet Şimşek zum Finanzminister. Dieser leitete eine Kehrtwende ein, um den massiven Wertverlust der Lira zu stoppen: Inzwischen sind die Leitzinsen auf 50 Prozent angehoben. Genutzt hat es bislang nichts, die Inflation stieg zuletzt sogar über 70 Prozent.
Dennoch sind viele Unternehmen optimistisch: Laut einer Umfrage der Außenhandelskammer erwarten 40 Prozent der rund 8.000 Unternehmen mit deutscher Beteiligung in der Türkei in den kommenden zwölf Monaten eine Verbesserung, nur zehn Prozent gehen von einer Verschlechterung aus (Quelle: Germany Trade & Invest, GTAI). Zwar werden Arbeitskosten, Wechselkursschwankungen und die hohen Zinsen als Risikofaktoren genannt, doch offenbar ist das Vertrauen groß, dass es gelingt, die Lage in den Griff zu bekommen.
Deutschland und die Türkei: Enge Handelsbeziehungen in beide Richtungen
In dieser Situation ist es ungünstig, dass die Wirtschaft in der Europäischen Union (EU) und speziell in Deutschland schwächelt. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner für türkische Exporte, gut acht Prozent aller Waren aus der Türkei wurden nach Deutschland geliefert. Bei den Importen in die Türkei liegt Deutschland mit knapp acht Prozent nach Russland und China an dritter Stelle. Die EU insgesamt ist mit weitem Abstand der wichtigste Handelspartner. Die Beziehungen sind eng, zumal seit fast 30 Jahren eine Zollunion besteht.
In der deutschen Öffentlichkeit bekannt ist die Türkei in erster Linie als Lieferant für Mode und Südfrüchte. Bezogen auf den Wert der Exporte sind allerdings Fahrzeuge und Fahrzeugteile, Elektronik und Maschinen relevanter. Speziell Automobil-Hersteller und -Zulieferer, Elektrotechnik- sowie Maschinenbauunternehmen – für Industrieanlagen ebenso wie für das Baugewerbe – beziehen Waren aus der Türkei, entweder als Kunden oder als Betreiber eigener Standorte.
Kosten im Blick behalten und Spielrahmen definieren
Eingespielte Lieferbeziehungen gibt man nicht gern auf, zumal türkische Unternehmen mit gut ausgebildeten Mitarbeitenden und entsprechend hoher Produktqualität starke Argumente auf ihrer Seite haben. Damit die Lieferantenbindungen auch langfristig gut bleiben, sollten Kunden in der Kooperation mit türkischen Unternehmen die Volatilität, die durch die Inflation entsteht, in ihr Risikomanagement einbeziehen.
Auch wenn die schwache Lira Exporte grundsätzlich verbilligt und EU-Kunden davon profitieren können, gibt es Risiken. Da türkische Unternehmen viele Vorprodukte und Rohstoffe aus dem Ausland beziehen, kann die Abwertung der Lira in der Beschaffung ein Problem sein. Abnehmer türkischer Produkte müssen daher die Lieferkette ihrer Anbieter kennen: Wie viele Vorprodukte werden importiert? Hat der Lieferant die finanzielle Stabilität, um diese zu bezahlen, hat er sich mit Wechselkurshedging abgesichert?
Kunden müssen die Risiken, die durch die instabile Währung entstehen, aktiv in ihr Risikomanagement einbeziehen.
Liquiditätsrisiken nicht unterschätzen
Liquiditätsmanagement ist eine weitere stetige Herausforderung. Langfristige Zahlungsziele sind in Ländern mit hoher Inflation ein Nachteil, weil sie zu Währungsverlusten führen. Lieferanten werden daher auf kurze Zahlungsfristen setzen, die – je nach Volumen und Umsatzgeschwindigkeit – für Kunden nicht immer leicht zu realisieren sind. Andererseits kann es vorkommen, dass Anbieter schnell in Liquiditätsschwierigkeiten geraten, wenn ihre Kunden nicht zeitgerecht zahlen. Dieses Risiko droht insbesondere dann, wenn der Lieferant viele türkische Kunden hat, die ihrerseits durch die Abwertung in finanzielle Schieflagen geraten können. Da, wie erwähnt, der Leitzins zurzeit bei 50 Prozent liegt, sind Zwischenfinanzierungen für die meisten türkischen Unternehmen keine Option.
Damit beide Seiten ein faires und zufriedenstellendes Arrangement treffen können, sollten sie die jeweiligen Anforderungen und Hintergründe des Partners kennen und getroffene Vereinbarungen auch einhalten. Darüber hinaus empfiehlt sich ein kontinuierliches Monitoring finanzieller Kennzahlen. Bei aller Verbundenheit zum Lieferanten gilt auch hier: Zeichnet sich eine Schieflage des Lieferanten ab, ist möglicherweise die eigene Versorgungssicherheit gefährdet. In dieser Situation ist es sinnvoll, weitere Lieferanten zur Diversifizierung einzubinden.
Neue Partner in der Türkei qualifizieren
Wer sich von inflationsbedingten Risiken nicht abschrecken lässt und Partner aus der Türkei in das Lieferantenportfolio aufnehmen möchte, sollte unbedingt die finanzielle Gesundheit des Anbieters überprüfen. Dazu sollten nicht nur die Bilanzen des Unternehmens analysiert werden, sondern unbedingt externe Quellen – etwa Bonitätsprüfer – hinzugezogen werden.
Verträge sollten entweder mit kurzen Laufzeiten oder flexibel gestaltet werden, um Preisrisiken zu minimieren. In flexible Verträge können indexbasierte Preisgleitklauseln aufgenommen werden. Das kann zwar, sollte die Inflation weiter im aktuellen Tempo voranschreiten, zu Preiserhöhungen führen. Aber in dem Moment, wo der Turnaround gelingt, profitieren Kunden auch von der Stabilisierung der Preise.
Kommunikation ist alles
Egal, ob es sich um einen langjährigen Partner oder eine frische Beziehung handelt: Wenn die Rahmenbedingungen instabil sind, helfen nur faire Vereinbarungen und Transparenz. Unternehmen sollten eng mit ihren Lieferanten in der Türkei Kontakt halten und eine stabile Kommunikationsbasis aufbauen, um frühzeitig von etwaigen Schwierigkeiten zu erfahren. Bei Problemen sollten beide Seiten unbedingt zusammenarbeiten, um Lösungen zu schaffen, die für Lieferant und Kunde zufriedenstellend sind.
Fazit
Trotz der hohen Inflation sind Unternehmen in der Türkei mit ihrer qualifizierten Mitarbeiterschaft attraktive Lieferanten. Jedoch müssen Kunden die Risiken, die durch die instabile Währung entstehen, aktiv in ihr Risikomanagement einbeziehen.
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