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18. Jun. 2025 | 11:00 Uhr | von Silke Fischer, RAIN

Risikomanagement

Resilienz ist kein Zustand, sondern ein dynamischer Prozess

Weshalb Strategien für Risikomanagement heutzutage ständig neu angepasst werden müssen.

Risk level meter indicating low level of risk. Stable and secure risk level.

Risikomanagement ist ein stetiger Prozess für mehr Resilienz. (Bild: Cagkan Sayin - stock.adobe.com)

Globale Lieferketten stehen unter zunehmendem Druck. Der Einzelhandel, aber auch die produzierende Industrie – ohnehin geprägt von engen Margen und hohem Wettbewerbsdruck – sieht sich einer zunehmenden Zahl externer Risiken gegenüber. Handelskonflikte, politische Instabilität, Umweltkatastrophen oder Cyberangriffe bringen selbst gut eingespielte Liefernetzwerke ins Wanken. Vor diesem Hintergrund wird klar: Resilienz im Retail ist kein optionales Extra, sondern ein strategischer Imperativ. Moderne Risikomanagementstrategien setzen auf technologische Lösungen, datengetriebene Analysen und flexible Strukturen – mit dem Ziel, Lieferfähigkeit und Geschäftskontinuität langfristig zu sichern.

Die neuen Herausforderungen globaler Supply Chains

Lange Zeit war das Supply Chain Management auf Effizienz optimiert. Planung, Beschaffung und Distribution folgten einem stabilen, globalisierten Muster. Konzepte wie „Just in Time“ und “Just in Sequence” wurden über tausende Kilometer hinweg erfolgreich umgesetzt. Doch diese Sicherheit gehört zunehmend der Vergangenheit an.

Heute sind Produzenten und Händler mit einem simultanen Auftreten vielfältiger Risiken konfrontiert: Geopolitische Spannungen führen zu abrupten Handelsbeschränkungen. Naturkatastrophen und Pandemien unterbrechen Produktions- und Logistikprozesse. Rohstoffengpässe und volatile Preise erschweren die Planung. Gleichzeitig gefährden Cyberangriffe die IT-Infrastruktur und legen komplette Systeme lahm. Die Folge: Unternehmen, die ihre Lieferketten ausschließlich kostenoptimiert aufgebaut haben, stehen im Krisenfall ohne Puffer da. Das Risikomanagement muss daher neu gedacht werden – technologiegestützt, resilient und vorausschauend.

Technologie als Rückgrat moderner Resilienzstrategien

Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, rücken technologische Lösungen immer stärker in den Fokus und bilden das Rückgrat moderner Resilienzstrategien. Digitale Systeme ermöglichen eine permanente Überwachung des Status quo, erkennen Schwachstellen frühzeitig und unterstützen die präzise Allokation personeller und materieller Ressourcen. Cloudbasierte Plattformen bieten Echtzeittransparenz entlang der gesamten Supply Chain – vom Rohstoff bis zum Point of Sale. Die nahtlose Vernetzung aller Beteiligten ermöglicht es, Verzögerungen rechtzeitig zu identifizieren und gezielt gegenzusteuern.

Advanced Analytics und Predictive Forecasting liefern fundierte Prognosen zu Nachfrageveränderungen, Preisentwicklungen und potenziellen Engpässen. Daraus lassen sich Maßnahmen wie Vorproduktion, Rerouting oder strategische Verhandlungen ableiten – bereits bevor eine direkte Störung eintritt.

Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen analysieren fortlaufend interne wie externe Datenströme, erkennen Muster und liefern erste automatisierte Hinweise auf potenzielle Entwicklungen. Diese Muster müssen jedoch vom Menschen erkannt, im jeweiligen Kontext bewertet und – abhängig von der Situation – in fundierte Handlungsempfehlungen oder Sofortmaßnahmen übersetzt werden. Erst das Zusammenspiel aus intelligenter Technologie und menschlicher Urteilsfähigkeit schafft belastbare Entscheidungsgrundlagen.

Auch die Blockchain-Technologie trägt zur Resilienz bei: Sie schafft eine lückenlose Rückverfolgbarkeit und stärkt die Transparenz in komplexen internationalen Netzwerken. Ergänzend liefern IoT-basierte Sensoren in Lagern und Transportmitteln Echtzeitdaten zu Umgebungsbedingungen. Qualitätsprobleme lassen sich so frühzeitig erkennen und beheben. Diese Technologien ersetzen Bauchgefühl durch verlässliche Echtzeitdaten – und machen Risikomanagement schneller, präziser und robuster.

Praxisbeispiel: Risikominimierung durch strategische Lagerhaltung

Ein Unternehmen der chemischen Industrie identifiziert in seiner Beschaffungsstrategie ein “Single-Sourcing” – es kann bestimmte Produkte ausschließlich von einem Lieferanten in Asien beziehen. Single Sourcing ist immer risikobehaftet, allerdings unter den heutigen Umständen nicht einmal mehr planbar. Mithilfe interner und externer Daten erfolgt eine detaillierte Analyse der kritischen Versorgungspfade. Die Auswertung zeigt: Durch die Zunahme der Störfaktoren hätte der Ausfall einer solchen zentralen Bezugsquelle gravierende Auswirkungen auf die Produktionsfähigkeit – zumal keine alternative Bezugsquelle identifiziert werden konnte.

Als Reaktion darauf richtet das Unternehmen drei strategisch platzierte Regionallager ein, die als Pufferzonen (safe house) fungieren. Die Standorte wurden so gewählt, dass sie – je nach Transportmittel (Land, See oder Luft) – innerhalb von 2 bis 12 Stunden unabhängig voneinander jeden relevanten Produktionsstandort zuverlässig versorgen können. Das Risikomanagement fließt so direkt in die Produktionsplanung ein, die Steuerung der Standorte erfolgt u.a. über Bedarf und Batch Live Control. Das Ergebnis: deutlich höhere geopolitische Versorgungssicherheit und eine spürbar verbesserte Reaktionsfähigkeit im Krisenfall. Die Geschäftskontinuität wird gesichert.

Strukturelle Maßnahmen für krisenfeste Lieferketten

Neben der technologischen Modernisierung müssen auch organisatorische Grundlagen angepasst werden. Eine zentrale Rolle spielt die Diversifizierung der Lieferantenbasis. Wer mehrere verlässliche Bezugsquellen in unterschiedlichen Regionen etabliert, reduziert Abhängigkeiten und erhöht seine Handlungsoptionen bei Ausfällen.

Ergänzend dazu gewinnt eine dynamische Lieferantenbewertung insbesondere in Regionen an Bedeutung, in denen aus wirtschaftlichen oder geopolitischen Gründen Single Sourcing praktiziert wird – wie im genannten Beispiel. Hier ist eine kontinuierliche, risikobasierte Bewertung entscheidend, um mögliche Schwächen frühzeitig zu erkennen und flexibel auf Veränderungen reagieren zu können.

Die vorausschauende Lagerhaltung – lange verpönt – wird wieder verstärkt relevant. Strategisch platzierte Pufferbestände für kritische Produkte helfen, temporäre Unterbrechungen abzufedern, ohne Kapital ineffizient zu binden.

Auch die Logistik muss flexibler werden: Alternative Routen, modulare Transportlösungen und regionale Produktionsstätten ermöglichen es, auf Störungen schnell zu reagieren – sei es durch Streiks, Überlastung in den Häfen oder Engpässe bei Lkw-Fahrern und im Schienenverkehr. KI-gestützte Simulationen helfen, Optimierungslücken und Potenziale zu erkennen und umzusetzen. KI-gesteuerte Prozesse entlasten Mitarbeitende von repetitiven Aufgaben und schaffen Freiraum für die Lösung komplexerer Probleme.

Darüber hinaus gewinnen digitale Frühwarnsysteme und Szenarienplanung an Bedeutung. Echtzeit-Dashboards überwachen Lieferkettendaten permanent. Bei Abweichungen schlagen automatisierte Systeme Alarm. Digitale Simulationen erlauben es, potenzielle Krisensituationen wie Lieferantenausfälle oder Naturereignisse im Vorfeld jederzeit durchzuspielen – inklusive Notfallplan und Reaktionsablauf.

Wer diese Maßnahmen konsequent implementiert, baut nicht nur Robustheit auf, sondern gewinnt an Agilität und Souveränität im Krisenmanagement.

Silke Fischer RAIN
Silke Fischer (Bild: RAIN)

Autorin: Silke Fischer

Silke Fischer ist Business Director Logistics bei RAIN – Rapid Innovation in Berlin und verfügt über mehr als 30 Jahre strategische Erfahrung in der maritimen Logistik. Vor ihrem Wechsel zu RAIN hatte die Ingenieurökonomin zahlreiche leitende Positionen in global agierenden Logistikunternehmen inne. Sie war unter anderem Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Logistik, verantwortete den Vertrieb bei GEODIS und bekleidete verschiedene Führungspositionen bei Leschaco & Maersk Line. Gemeinsam mit RAIN verfolgt Silke Fischer das Ziel, Logistik- und SCM-Verantwortlichen den Zugang zu hochwertigen, bislang nicht verfügbaren Echtzeitdaten zu ermöglichen sowie diverse Geschäftsprozesse zu automatisieren und zu optimieren – und so strategische Wettbewerbsvorteile zu sichern.
Mehr unter: www.ra-in.com

Fazit: Resilienz als strategischer Wettbewerbsvorteil

Die Zeit planbarer, linearer Lieferketten ist vorbei. Die Vielzahl gleichzeitiger globaler Risiken zwingt den Handel dazu, seine Strukturen zu hinterfragen. Unternehmen, die heute in Technologie, Prozesssicherheit und Partnerschaften investieren, sichern sich nicht nur ihre Lieferfähigkeit – sie gewinnen einen strategischen Vorsprung. Denn Resilienz ist kein fixer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess. Wer ihn professionell gestaltet, bleibt auch unter Druck handlungsfähig – und transformiert Unsicherheit in Wettbewerbsvorteil.

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