
Hyperautomatisierte Fabriken – Asien treibt die Entwicklung voran, Europa und Deutschland zurückhaltender. (Bild: sablengjago - stock.adobe.com)
TECHNIK+EINKAUF: Herr Vollmer, Ihre Studie zeigt Trends in der Fabrikautomatisierung auf. Wo stehen wir heute und wohin geht die Reise?
Patrick Vollmer: Bisher war Automatisierung sehr stark auf Effizienz fokussiert. Aber Effizienz ist nicht alles in der modernen Produktion. Wir sehen fundamentale Veränderungen: Die Losgrößen werden immer kleiner, bis hin zur Losgröße 1. Gleichzeitig hat die Produktion mit immer unterschiedlicheren Technologien zu tun - Software wird auf dem Shopfloor kalibriert, Chips und Elektronik kommen mit Mechanik zusammen. Das erfordert eine komplett neue Qualität, bei der Unternehmen eher etwas brauchen, was höhere Flexibilität bietet, als nur effizient zu sein.
Parallel dazu erleben wir einen Technologieshift durch AI und softwaregesteuerte Fabriken. Die Automatisierung wird end-to-end gedacht. Es bringt nichts, nur eine Insel zu automatisieren, wenn die ganze Kette nicht funktioniert. Der Digital Twin spielt eine wesentliche Rolle, da sich damit viel besser antizipieren, planen und simulieren lässt. Das gibt eine neue Form der Automatisierung, die wesentlich flexibler ist - eine softwaregesteuerte, AI-gesteuerte Lösung.
Was sind die Herausforderungen bei der Vernetzung und Sicherheit? Nicht alle Hersteller waren früher dafür offen?
Jeder hat mittlerweile eingesehen, dass wir die Systeme miteinander vernetzen müssen. Aber beim Thema OT-Security haben wir noch nicht die vollen Antworten gefunden. Viele große Firmen denken noch in zwei Welten - IT und OT getrennt. Das Problem ist real: Sie können im Internet eine Seite finden, wo Sie alle Siemens PLCs oder ABB-Steuerungen sehen, die offen im Netz stehen. Das ist hochinteressant und beunruhigend zugleich. Viele Steuerungen, gerade im Mittelstand, sind nicht geschützt.
Das Thema Cloud wird oft als unsicher betrachtet, aber ich bin mir nicht sicher, ob es besser ist, lokale Rechner in der Produktion zu warten, als ein professionell gemanagtes Rechenzentrum zu nutzen. Cloud wird eher
Gibt es regionale Unterschiede in der Automatisierungsbereitschaft?
Absolut. Unsere Studienergebnisse zeigen deutliche Unterschiede: Bei der Frage, ob Roboter und autonome Fahrzeuge bis 2040 die meisten Produktionsprozesse handhaben werden, stimmen in Deutschland 49 Prozent zu, in Frankreich nur 30 Prozent. Dagegen sind es in China 64 Prozent, in Japan sogar 83 Prozent und in Indien 63 Prozent. Der Optimismus und die Erwartungshaltung in Asien sind also wesentlich höher. Die Motive unterscheiden sich auch: In Indien geht es insbesondere um Qualitätsverbesserung, während in Japan und China der Ersatz von Arbeitskräften und generelle Automatisierung im Vordergrund stehen.
Interessant ist, dass die USA nicht so fortschrittlich sind, wie man erwarten könnte - eher europäisch anmutend. Bei der Gen-AI-Nutzung auf dem Shopfloor sehen wir ähnliche Muster: 65 Prozent der großen Firmen versus 48 Prozent der kleinen Firmen stimmen zu, aber Europa liegt nur bei 39 Prozent, während Japan bei 74 Prozent steht.

Accenture-Studie: Hyperautomatisierte Fabriken
Fabrikleiter:innen in Asien erwarten, dass ihre Produktionsstätten bis 2040 weitgehend mit KI-gestützten, selbstlernenden Maschinen und Robotern ausgestattet sein werden. Menschen nehmen dabei vor allem eine überwachende und unterstützende Rolle ein. Ihre Kolleg:innen in Europa und den USA sind da zurückhaltender, stimmen aber zu, dass sich die Zukunft der Fertigung grundlegend verändern wird. Vor allem in Deutschland ist eine gewisse Skepsis gegenüber der Hyperautomatisierung erkennbar. Diese Ergebnisse stammen aus der Accenture-Studie „Rethinking the course to manufacturing’s future“. Dafür hat Accenture weltweit 552 Fabrikmanager:innen aus den Bereichen Maschinenbau, Automobil und Luftfahrt befragt.
Ansätze zur hyperautomatisierten Fabrik zeigen nationale Unterschiede
Die Studie beschreibt die Bedeutung von KI, Automatisierung und Digitalisierung für die Zukunft der Fertigung. Im Jahr 2040 werden Hyperautomatisierungs-Technologien und -Anwendungen das Bild von Fabriken prägen, das erwartet rund die Hälfte der Befragten. Deutlich weniger sind es in Deutschland und Europa. Zu den abgefragten Kernelementen der Zukunftsfabrik zählen:
- Autonome Betriebsabläufe (Industrie 5.0): Die Zustimmung weltweit liegt bei 53 Prozent in Deutschland nur bei 40 Prozent und in Europa sogar bei nur 38 Prozent.
- Selbstlernende Maschinen mit generativer KI finden weltweit bei 52 Prozent Zustimmung, in Deutschland jedoch nur bei 42 Prozent und in Europa bei 39 Prozent.
- Vollautomatisierte Lager halten 51 Prozent der Befragten weltweit für entscheidend, verglichen mit 38 Prozent in Deutschland und 35 Prozent in Europa.
- Intelligente, vernetzte Fertigungszellen werden global von 49 Prozent als relevant angesehen, aber nur von 27 Prozent in Deutschland und von 31 Prozent in Europa.
- Autonome mobile Roboter (AMR) werden weltweit von 49 Prozent priorisiert, in Deutschland von 42 Prozent und in Europa von 32 Prozent.
- Digital vernetzte und interagierende Teams erhalten weltweit 48 Prozent Zustimmung, in Deutschland 31 Prozent und in Europa 30 Prozent.
- Digitale Zwillinge von Betriebsabläufen werden weltweit von 47 Prozent für wichtig gehalten, in Deutschland und Europa jedoch nur von 29 Prozent.
- Fahrerlose Transportfahrzeuge (AGV) halten global 45 Prozent für relevant, während die Zustimmung in Deutschland darunter bei 31 Prozent und in Europa bei 25 Prozent liegt.
In China und Japan liegen die Zustimmungswerte mit 51 Prozent bis 83 Prozent deutlich höher.
Je fortschrittlicher das Konzept, desto deutlicher die regionalen Unterschiede:
- 74 Prozent der Fabrikleiter:innen in Japan gehen davon aus, dass ihr Unternehmen im Jahr 2040 vornehmlich „Dark Factories“ bauen wird (China: 53 Prozent, USA: 29 Prozent, Europa: 20 Prozent). In Deutschland sind es lediglich 24 Prozent
- Gleichzeitig werden humanoide Roboter in den Montageprozessen ihrer Unternehmen Standard sein, glauben 72 Prozent der Befragten in Japan, 65 Prozent in China und 35 Prozent in den USA. Deutlich weniger sind es in Deutschland (23 Prozent) und Europa (21 Prozent).
Brownfield vs. Greenfield: Kann man alte Fabriken genauso gut automatisieren oder ist es eher für neu zu erbauende Produktionen geeignet?
In China und Indien entstehen viele neue Fabriken, wo sich neue Technologien viel einfacher verbauen lassen. In Deutschland, den USA und Europa haben wir hauptsächlich bestehende Fabriken, was die Transformation erschwert. Auch beim Thema fähige Arbeitskräfte für die Automatisierung sind die USA noch weniger gut aufgestellt als Europa, besonders Deutschland.
Wird es die "Dark Factory" geben, in der keine Menschen mehr arbeiten?
Es wird sicherlich Fabriken geben, in denen keiner mehr auf dem Shopfloor arbeitet - das sehen wir heute schon im Rohbau der Automobilindustrie. Aber häufiger werden Maschine und Mensch viel stärker zusammenarbeiten.
Dabei entstehen ganz neue Rollen für den Menschen: Supervision und Überwachung, Next Best Action-Entscheidungen, Ausnahmebehandlung und Continuous Improvement. Das erfordert höhere Qualifizierung, aber durch AI gibt es eine viel stärkere Verknüpfung verschiedener Technologien und Informationsquellen. Wir können eine Entscheidungsunterstützung von neuer Qualität leisten.
Was beutet das in der Praxis?
Das Geheimnis liegt im "Industrial Brain" - der Fähigkeit, verschiedene Datenquellen zusammenzubringen und über AI-Modelle Reasoning zu betreiben. Heute kann ich sagen: "Ich habe Qualitätsprobleme, diese Maschinenauslastung, diesen Output, diesen Krankenstand." Aber warum das so ist, weiß ich erst, wenn ich die einzelnen Dinge miteinander verknüpfe.
Das Problem heute: Für jede Funktion gibt es eigene Systeme - PLM für Ingenieure, MES-Systeme für die Produktion, SCADA-Daten, Sensordaten, Qualitätssysteme, ERP, Logistikplanung, Personalverwaltung. Eine semantische Verknüpfung dieser internen und am besten noch mit externen Datenquellen ermöglicht neues Reasoning. Derzeit arbeiten verschiedene Industriekonzerne daran ihr eigenes Wissen über entsprechende Modelle zu vermarkten.
Das heißt es ist ein organisatorischer Wandel vonnöten? Neue Rollen und Verantwortungen?
Ein Schichtleiter hat plötzlich alle Informationen verfügbar. Er muss nicht mehr den Qualitätsmanager anrufen, sondern sagt: "Ich habe weniger Output wegen Qualitätsproblemen, und das liegt an Linie X, Maschine Y."
Das verändert Organisationen fundamental: Es gibt höhere Verantwortung für einzelne Mitarbeiter, veränderte Führungsrollen und horizontale statt vertikaler Zusammenarbeit. Integration, Orchestrierung, Empathie und Kollaboration werden meines Erachtens wichtigere Führungsqualitäten sein, als funktionales und technisches Wissen. Viele Führungskräfte sind noch nicht bereit für diese Transformation. AI wird heute minimalinvasiv in einzelnen Funktionen gedacht, aber der richtige Benefit kommt durch transformatorische, End-to-end Ansätze. Dazu müssen wir Arbeit, Rollen und Organisation neu denken.
Was hält deutsche Unternehmen von diesen Investitionen ab?
Es gibt mehrere Faktoren: Das Investitionsklima ist zurückhaltend, alles ist auf schmalspurig getrimmt. Dazu kommt eine hohe Unsicherheit über die Zukunft und organisatorische Trägheit - viele warten auf den "perfekten" Moment. Dabei gibt es "No-Regret-Moves", also Dinge, die wir eh machen müssen, wie kontinuierliche Effizienzsteigerung in der Produktion.
Positive Beispiele wie Mercedes-Benz zeigen, wie es geht: Sie haben ihre Mitarbeiter geschult und die Transformation vorangetrieben, indem Arbeit als Informationsverarbeitung verstanden wird, nicht als reine prozessuale Abarbeitung.
Was empfehlen Sie Unternehmen, die den Weg gehen wollen?
Die erste Priorität ist, die Daten zusammenzubringen. Die Fragmentierung steht überall im Weg. Die zweite Priorität ist, Systemintegration anders zu denken. Wir glauben immer, erst alle Systeme einführen zu müssen, bevor wir weitermachen können. Die Amerikaner denken anders - sie fangen schon an, auch mit unvollständigen Systemlandschaften zu arbeiten.
Als dritten Punkt sollten Sie die Automatisierung vorantreiben, auch wenn die Umsetzung in Brownfield-Umgebungen länger dauert. Dann ist Value Stream Mapping wichtig: Schauen Sie, was der Schmerzpunkt ist - Qualitätsprobleme, Durchlaufzeiten oder Kosten? Dann machen Sie Value Stream Mapping, aber digitalisiert gedacht, nicht losgelöst von der Technologie. Digitalisierung und Operational Excellence werden heute allzu oft voneinander unabhängig gedacht.
Was brauchen sie noch?
Außerdem brauchen wir eine engere Abstimmung zwischen Entwicklung, Produktion und Einkauf. Design-for-Manufacturing-Prinzipien müssen in einem echten Closed Loop funktionieren. Schließlich sollten Sie Wissen sammeln und zusammenführen. Zu viel Know-how schlummert noch in den Köpfen, besonders im Engineering. Das größte Problem ist oft: Die Leute rücken das Wissen nicht raus. Hier braucht es Change-Management und Vertrauen.
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Fazit: Der Weg zur intelligenten Fabrik
Die Zukunft der Fabrikautomatisierung liegt nicht in der reinen Effizienzsteigerung, sondern in der intelligenten Vernetzung von Mensch, Maschine und Daten. Erfolgreiche Unternehmen werden diejenigen sein, die diese Transformation ganzheitlich angehen - technologisch und organisatorisch.
Der Fachkräftemangel wird diesen Wandel beschleunigen, aber der wahre Durchbruch kommt durch die Kombination aus AI-gesteuerten Systemen, vernetzten Datenquellen und qualifizierten Mitarbeitern, die in neuen Rollen als Supervisor und Entscheidungsunterstützer agieren.