Der natürliche Kohlenstoffkreislauf aus Leben, Sterben und Vergehen braucht ein technisches Pendant. CO2, umgewandelt zu Kohlenstoff, gewonnen aus der Atmosphäre oder aus Abgasströmen, muss ebenso zum Rohstoff werden wie Bodenschätze und Plastikmüll aus der Recycling-Tonne.
Ohne Kohlenstoff geht es nicht. Das Treibhausgas Kohlendioxid (CO2) ist nur eine von mehreren Millionen möglicher Verbindungen, die auf Kohlenstoff (Carbonium) basieren. Kein anderes Element kann so viele unterschiedliche Bindungen eingehen wie das Kohlenstoffatom. Dennoch – oder gerade deshalb – führt kein Weg an Dekarbonisierung oder zumindest an Defossilierung vorbei, sollen die gesteckten Klimaschutzziele Realität werden.
Es gilt, die Kohlendioxid-Emissionen so weit als möglich zu reduzieren und dort, wo dies nicht möglich ist, Carbon Capture and Utilisation (CCU) oder Carbon Capture and Storage (CCS) nutzen: Also freigesetztes CO2 einzufangen und den enthaltenen Kohlenstoff anstelle von Kohlenstoff aus fossilen Quellen immer wieder neu zu nutzen, ihn dauerhaft zu speichern – oder beides.
Prozessindustrie defossilieren
„In der chemischen Industrie ist Defossilierung ein erklärtes Ziel. Der Umstieg auf nicht-fossile Rohstoffe wäre grundsätzlich möglich, und hier könnten zukünftig auch CO2-basierte Rohstoffe eine Rolle spielen“, sagt Biotechnologin Dr. Heike Aichinger vom Fraunhofer-Institut für Innovationsforschung ISI in Karlsruhe. „Im Grunde ist es alternativlos: Irgendwann wird die Welt aus der Ölförderung aussteigen müssen, und das wird am Bedarf der Industrie an Kohlenstoffverbindungen wenig ändern. Also müssen alternative Rohstoffquellen genutzt werden“, stellt sie fest.
Gleichzeitig gilt es, gut funktionierende Kohlenstoff-Kreisläufe zu etablieren, die weit über das hinaus gehen, was die Natur seit Jahrmillionen praktiziert. Denn recycelter Kohlenstoff aus CO2 ist hier eine wichtige Alternative zu Kohlenstoff auf Basis nachwachsender Rohstoffe, sprich Pflanzen, weil er nicht mit Getreide, Gemüse oder Grünfutter um Flächen und Nährstoffe konkurriert.
Vielversprechende Technologien für seine Gewinnung und Umwandlung stehen bereit. Sie reichen von Verfahren wie dem von Covestro, welches das CO₂-Molekül bereits direkt in Polyole für die Produktion von Polyurethan-Schaumstoffen einbaut, bis hin zu chemischen und biotechnologischen Prozessen, die Chemikalien für Kunststoffe, Treibstoffe oder Kosmetika liefern.
Emissionen umkehren: Aus CO2 Kohlenstoff als Rohstoff gewinnen
„Kohlenstoff ist nicht der Feind. Das Problem ist, dass die Nutzung von fossilem Kohlenstoff globale Erwärmung verursacht. Verwenden wir Kohlenstoff aus CO₂-Abgasen anstelle von fossilen Brennstoffen, können wir Emissionen umkehren, während wir gleichzeitig nützliche Produkte herstellen, die unsere globale Wirtschaft vorantreiben“, denkt Dr. Kendra Kuhl, Mitbegründerin und Chief Technology Officer des kalifornischen Start-ups Twelve.
Davon, dass ‚CO2Made‘ funktioniert, ist Twelve so überzeugt, dass sich das Unternehmen den Begriff beim US Patent and Trademark Office (USPTO) schützen ließ. Vorbestellungen für sein ‚Carbon Transformation Module‘, welches COX-Verbindungen elektro-chemisch per Katalyse im Industriemaßstab reduzieren soll, nimmt das Unternehmen bereits an.
Einen Schritt weiter sind Siemens und Evonik im Projekt Rheticus: Hier ist das Ziel, durch eine Art künstliche Photosynthese – ausgehend von regenerativ erzeugtem Strom als Energiequelle für chemische und biologische Teilprozesse – CO₂ und Wasser in Chemikalien umzuwandeln. Die aktuelle Versuchsanlage in Marl besteht aus einem Elektrolyseur von Siemens, der CO₂ und H₂O in Wasserstoff (H2) und Kohlenmonoxid (CO) umsetzt, und einem Bioreaktor von Evonik, in dem Mikroorganismen CO und H2 dann in einem zweistufigen Prozess in die Alkohole Butanol (C4H10O) und Hexanol (C6H13OH) verstoffwechseln. „Noch ist Rheticus ein Forschungsprojekt. Mögliche Anlagen, die im kommerziellen Maßstab produzieren, sind in den nächsten fünf Jahren vorstellbar“, erwartet Dr. Thomas Haas, Projektleiter Rheticus bei Evonik. Dann sollen auch erste Produkte auf den Markt kommen.
„In der ersten, kurzfristigen Stufe des Rheticus-Projektes liegt der Fokus auf der Herstellung von Spezialchemikalien, da der Prozess in Deutschland so bereits heute wirtschaftlich betrieben werden kann“, erklärt er. Eine „zukünftige erste kommerzielle Anlage“, die jährlich 10.000 Tonnen Hexanol und Butanol herstellen kann, binde, so Haas, bei der Produktion circa 25.000 Tonnen CO₂. Vorausgesetzt, die Anlage läuft mit CO₂-freiem Strom aus Solar-, Wind- oder Wasserkraft.
Die Rheticus-Anlage kann im Sinne von Power-to-X regenerative Energie in Form der erzeugten Chemikalien speichern. Sie ist so flexibel ausgelegt, dass sie auch mit einem fluktuierenden Stromangebot zurechtkommt und im Idealfall im Lastmanagement einsetzbar ist, um Stromschwankungen im Netz auszugleichen.
Kohlenstoff im Kreislauf führen
Ethanol (C2H5OH) aus Abgasen der Stahlindustrie entsteht in dem Fermentationsprozess, den das amerikanische Biotech-Unternehmen Lanza Tech unter anderem beim chinesischen Stahlhersteller Shougang einsetzt. Die kommerzielle Anlage im Stahlwerk Jingtang produzierte von Mai 2018 bis Januar 2021 nach Angaben von Lanza Tech mehr als 60.000 Tonnen Ethanol aus kohlenmonoxid- und wasserstoffhaltigen Hüttengasen.
Eine europäische Anlage von Lanza Tech wird derzeit bei Arcelor Mittal im belgischen Gent gebaut. Dort sollen mithilfe acetogener Bakterien ab Ende 2022 in vier Bioreaktoren rund 80 Millionen Liter Ethanol im Jahr entstehen. Dies würde knapp die Hälfte des derzeitigen jährlichen Ethanol-Bedarfs in Belgien abdecken.
Wie viele Tonnen CO₂-Emissionen das letztendlich einspart, ist allerdings die Frage. Wird das Ethanol als Bio-Kraftstoff verwendet, ist es zur Verbrennung bestimmt, und dabei entsteht am Ende zwangsläufig wieder CO₂. Was sich jedoch auf jeden Fall reduziert, ist der Verbrauch an fossilem Erdöl. „Die einmalige Nutzung von Kohlenstoff muss der Vergangenheit angehören“, fordert Jennifer Holmgren, CEO von Lanza Tech.
„Chemikalien und flüssige Treibstoffe, besonders in der Luftfahrt, benötigen nach wie vor Kohlenstoff als Energieträger, während die Stromerzeugung komplett dekarbonisiert werden kann und sollte. Kohlenstoff-Recycling gibt uns die Wahl, woher der Kohlenstoff in unseren Produkten kommt: frisch aus fossilen Ressourcen oder wieder verwendet aus kohlenstoffhaltigen Abgasen“, erklärt sie.
Chemie und Biologie gemeinsam denken
Welche Verfahren zum CO₂-Recycling sich am Ende durchsetzen werden, ob es chemische oder biologische sein werden oder Kombinationen davon, ist noch offen. „Man muss das komplementär und nicht kompetitiv sehen“, betont Innovationsforscherin Aichinger. Die Abgase von Stahlwerken, Kraftwerken, Zementfabriken und anderen starken Emittenten unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung. Das CO₂ einer Punktquelle aufzubereiten ist eine andere Aufgabenstellung, als CO₂ aus der Atmosphäre zu filtern und zu nutzen. Auch das gewünschte Endprodukt und seine Eigenschaften beeinflussen, welche Prozesse und Verfahren am besten geeignet sind.
„Es geht immer darum, was sind die Bedarfe, was ist die Anwendung und welche Verfahren stehen mir zur Verfügung“, sagt Aichinger. Ohnehin seien die meisten Ansätze in nächster Zeit noch Nischenprojekte, stellt sie klar: „Viele dieser Technologien müssen sich noch beweisen. Zeigen, dass sie überhaupt in der Lage sind, auch im großen Maßstab zu funktionieren und wirtschaftlich zu produzieren.“
In den nächsten drei oder vier Jahren seien hier keine wirklich großen Volumina zu erwarten, so Aichinger. „Welche Verfahren sich letztendlich durchsetzen, wird aber nicht nur von der Technologie, sondern auch ganz stark von den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängen. Also davon, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt und auf welche Ziele wir uns einigen“, betont sie.
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