
Virtuelle Job-Interviews sind gang und gebe, doch sie haben auch Nachteile. (Bild: Andrey Popov - stock.adobe.com)
Digitale Vorstellungsgespräche sparen Zeit und Geld und bergen doch Risiken. Mittelständler, die im Ausland wachsen wollen, setzen viel aufs Spiel, wenn sie potenzielle Fach- und Führungskräfte ausschließlich per Videocall kennenlernen. Der Headhunter und Personalberater Roman Remel zeigt anhand zweier Praxisbeispiele, dass persönliche Begegnungen im internationalen Recruiting schwer wiegen.
Laut einer Umfrage des Beratungskonzerns EY aus dem Jahr 2024 planen 45 Prozent der hiesigen Industriefirmen, neue Standorte im Ausland zu errichten. Dort konkurrieren sie mit lokalen Wettbewerbern sowie internationalen Marktbegleitern, die ebenfalls expandieren.
Im Wettbewerb um qualifizierte Fach- und Führungskräfte setzen sich jene Unternehmen durch, die Kandidatinnen und Kandidaten durch einen überzeugenden Bewerbungsprozess frühzeitig für sich gewinnen. Seit der Pandemie digitalisieren Firmen ihre Hiring-Verfahren zunehmend; viele führen sie inzwischen vollständig virtuell durch. Doch gerade im internationalen Kontext, wo verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, ist die persönliche Begegnung ausschlaggebend.
Ein Kennenlernen vor Ort schafft Vertrauen, klärt die Erwartungshaltung beider Seiten und erhöht die Abschlusswahrscheinlichkeit erheblich. Unternehmen, die diesen Schritt auslassen, riskieren, in der entscheidenden Phase Bewerbende zu verlieren.
Recruiting im Ausland verlangt Präsenz
Die Pandemie machte Video-Meetings zur Norm und die Mehrheit aller Unternehmen übernahmen die digitale Kommunikation dauerhaft in ihre Recruiting-Prozesse. Das ergibt in vielerlei Hinsicht Sinn: Vorstellungsgespräche per Konferenz-Tool sparen Zeit, senken Reisekosten und beschleunigen Bewerbungsprozesse. „Es ist allerdings wichtig, sich im Online-Job-Interview genügend Zeit für die Kandidatinnen und Kandidaten zu nehmen und das Gespräch nicht auf 30 oder 60 Minuten zu beschränken“, betont Headhunter Roman Remel.
Idealerweise gehen die gesprächsführenden Recruiter genau auf die Vorstellungen des Unternehmens ein, sodass auf Bewerberseite keine Fragen offen bleiben. Vor allem bei internationaler Personalbeschaffung gilt: Spätestens auf die Vorentscheidung sollte ein persönliches Kennenlernen folgen. „Unterschiedliche kulturelle Prägungen beeinflussen häufig den Verlauf eines Bewerbungsgesprächs. Persönliche Treffen beugen Missverständnisse vor und schaffen ein Verständnis für Rollen, Anforderungsprofil und Zusammenarbeit“, weiß Remel. So werden Kandidatinnen und Kandidaten von Interessierten zu Überzeugten.
Job-Anwärter hingegen, die nie das Büro gesehen oder die Führungskraft im direkten Kontakt erlebt haben, springen erfahrungsgemäß aufgrund von Unsicherheiten oft im letzten Moment ab – selbst bei attraktiven Angeboten.
Zwei Cases, ein Muster
Case Nr.1: Suchauftrag: Sales Manager, Großbritannien. Industrie: Elektrotechnik
Die Videointerviews mit dem Kandidaten verlaufen reibungslos, Interesse ist deutlich spürbar. Als das Vertragsangebot auf dem Tisch liegt, kommt die überraschende Absage. Der Job-Anwärter begründet seine Entscheidung mit einer zu geringen Vergütung; trotz marktgerechtem Angebot. Auf Nachfragen reagiert er vage, ein Gegenvorschlag bleibt aus, seine Bedürfnisse unklar. Dem Kandidaten fehlte ein persönliches Kennenlernen als Grundlage für das nötige Vertrauen. Das Unternehmen sah sich gezwungen, eine neue Personalsuche anzustoßen.
Case Nr.2: Suchauftrag: Sales Manager, Polen. Industrie: internationale Zertifizierungsgesellschaft
Nach nur einem Videogespräch erhält der Kandidat die Zusage, der Arbeitsvertrag soll sie formell besiegeln. Darauf reagiert der Anwärter mit Nervosität statt Vorfreunde: Er drängt auf sofortige Zusendung der Unterlagen, wirkt zunehmend ungeduldig und schließlich sogar abweisend. Ein klares Zeichen von mangelndem Vertrauen in das Unternehmen. Der Bewerbungsprozess scheitert.
Begegnung statt Bauchgefühl
Die Praxis belegt, dass Zeitdruck, ein übersteigertes Selbstbewusstsein der Unternehmen und Effizienzdenken immer wieder zum Verzicht auf Kennenlernen führen. Betroffen sind davon vorrangig reine Remote-Stellen. Hier entfällt ein Besuch in der Zentrale, obwohl dieser Schritt für viele Bewerbende entscheidend wäre. Ohne eigene Eindrücke vermissen Talente ein Sicherheitsgefühl, das sie bei Jobwechseln plagt.
Kommt das Jobangebot vor dem ersten Vor-Ort-Kontakt, reagieren manche überrascht oder treten den Rückzug an. „Zwar bevorzugen die meisten unserer Mandanten den persönlichen Kontakt, doch in rund 10 Prozent der Fälle bleibt es bei der digitalen Begegnung“, resümiert Remel. Wer letzteren Weg wählt, muss frühzeitig Transparenz schaffen, um Enttäuschungen zu vermeiden und Vertrauen zu gewinnen.
Fehlbesetzungen bremsen den Markteintritt; besonders im Ausland, wo jede Verzögerung den Aufbau neuer Standorte behindert. Die finanziellen Einbußen für wiederholte Suchprozesse übersteigen die Ausgaben für Kost und Logis bei weitem. „Ich rate Unternehmen dringend, auf echte Begegnungen zu setzen. Wer als Arbeitgeber erlebbar wird, gewinnt die besten Köpfe“, verdeutlicht Personalberater Remel abschließend.
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