LkW-Stau auf der Brennerautobahn

Lkw-Stau am Brenner: Wichtiges Nadelöhr von Süd nach Nord. (Bild: Tina7si/Adobestock)

Hinter Bozen ging nichts mehr. Kaum hatte die österreichische Polizei am 11. März die Grenze auf dem Brenner dicht gemacht, stauten sich Lkw über 80 Kilometer nach Süden. Acht Tage später das gleiche Bild an der polnischen Grenze. Vom Grenzübergang bei Frankfurt an der Oder standen Trucks auf 60 Kilometer Länge bis zum Berliner Autobahnring.

Italienische und osteuropäische Zulieferer fielen für deutsche Einkäufer damit zu Beginn der Corona-Krise aus. Eine Katastrophe! Denn in der EU geben allein Deutschlands Maschinenbauer-Einkäufer über 80 Milliarden Euro aus, so der Verband Deutscher Maschinen und Anlagenbau. Das ist mehr als doppelt so viel wie in Asien.

Als Alternative fielen Zulieferer in China und Südostasien zu Jahresbeginn jedoch ohnehin aus. Da Werke in der Volksrepublik lange geschlossen blieben, stellten sie benötigte Ware nicht her. Später verließ diese das Land nicht, weil die chinesische Staatsreederei Cosco Abfahrten strich. Da durch den globalen Stillstand die Nachfrage nach Transportdienstleistungen sank, nahmen Reedereien zudem fast 400.000 Container aus dem Verkehr, meldet der Branchenverband International Maritime Organization.

Normalisierung erst wieder im Jahr 2023?

Wann sich die Lage in der Logistik wieder normalisiert, ist kaum abzusehen. „Das hängt davon ab, wie schnell sich Nachfrage und Angebot wieder angleichen. Derzeit weiß jedoch niemand, wie sich die Nachfrage nach Transportdienstleistungen entwickeln wird“, erklärt David Wystrach, Leiter der Luftfracht in Europa, Nahost und Afrika beim Logistikdienstleister Flexport. „Das hängt von der weltweiten Konjunktur ab. Die lässt sich aber derzeit kaum vorhersagen.“

Ebenso unsicher ist, wie sich Luftfracht-Kapazitäten der Airlines entwickeln werden. „Hier gibt es derzeit die größten Engpässe“, erklärt Mirko Woitzik, Risikoanalyst bei der Lieferkettenplattform der DHL, Resilience360, in einem Podcast der Bundesvereinigung Logistik. Da der Linienflugverkehr zwischen Europa und den USA sowie China im Zuge der Krise fast komplett zum Erliegen gekommen ist, fehlen Cargo-Kapazitäten in den Laderäumen der Passagiermaschinen. Daran wird sich so schnell nichts ändern. „Manche Airlines rechnen damit, dass ihr Streckennetz und ihr Flugplan erst 2023 wieder so engmaschig und dicht getaktet sind wie vor der Corona-Krise“, berichtet Flexport-Experte Wystrach.

Grafik zu den Maßnahmen gegen Beschaffungsrisiken
Mit welchen Maßnahmen reduzieren Unternehmen ihre Beschaffungsrisiken? (Grafik: Inverto-Studie "Risikomanagement im Einkauf")

Einkaufsstrategien waren nicht risikofest

Neun von zehn Unternehmen kämpfen aufgrund dieser Situation derzeit mit Engpässen in ihren Lieferketten. Genau so viele befürchten, dass das noch lange so bleibt. Das ergab in der letzten März-Woche eine Umfrage der Einkaufsberatung Inverto. Noch nie trafen Störungen der globalen Transportwege so viele Unternehmen so unvorbereitet wie während der Corona-Pandemie.

Daran sind viele Betriebe selbst schuld. Viele Geschäftsleitungen sahen in der Kombination aus Single Sourcing in Niedriglohnländern, knappen Lagerbeständen und der zeitgenauen Belieferung ihrer Montagebänder mit Material jahrzehntelang den Garant für wirtschaftlichen Erfolg. Sechs von zehn von Inverto befragten Unternehmen war es bisher wichtiger, Logistikkosten zu senken, als kürzere Vorlaufzeiten zu erzielen.

Gier fraß bei dieser Strategie oft den Verstand als Hauptgericht und die Vorsicht als Nachspeise. Denn interessanterweise erkannten vier von zehn Befragten zugleich, dass längere Lead Times für sie ein besonders großes Risiko darstellen. Auch verursachten Störungen in Häfen und an Airports schon 2018 fast jede fünfte Betriebsunterbrechung, so eine Studie des Bundesverbands Materialwirtschaft Einkauf und Logistik.

Es erstaunt daher wenig, dass viele Unternehmen ihr Management von Transportrisiken nach der Krise ändern wollen. Zwei von drei Teilnehmern der Inverto-Studie haben bereits Lagerbestände erhöht, um Materialengpässe zu vermeiden. Vier von zehn Befragten werden lokale Lieferanten enger in ihre Lieferkette einbinden. Jedes dritte Unternehmen will mit digitalen Tools mehr Transparenz in seine Supply Chain bringen.

Unterschiedliche Prioritäten brauchen einen Maßahmen-Mix

Wirklich beherrschbar werden Risiken in der Transportkette aber erst durch einen Mix mehrerer Maßnahmen. Das zeigt die aktuelle Krise. „Derzeit setzt jede Abteilung im Unternehmen eigene Prioritäten, um handlungsfähig zu bleiben“, erklärt Thibault Pucken, Geschäftsführer von Inverto. „Die Geschäftsleitung will, dass Einkäufer die Liquidität schonen und Lagerbestände an die Auftragslage anpassen sowie Transportkosten gering halten. Logistiker fordern dagegen größere Puffer, weil sie nicht wissen, wann und ob bestelltes Material ankommt.“ Die Produktion wiederum interessiere sich nicht für die Transportkosten. Sie braucht Material, um arbeiten zu können.

„Wenn Einkäufer und Geschäftsführer all diese legitimen Forderungen berücksichtigen wollen, muss ihr Management von Transportrisiken bei der Fragen danach ansetzen, was sie zukaufen müssen und was sie selbst herstellen können“, rät Pucken. Denn so kläre sich, welche Risiken sich vermeiden lassen und welche nicht. Bei Vorprodukten, die Unternehmen beschaffen müssen, sollten sie zudem analysieren, welche Störungen in der Logistikkette dieser Teile und Komponenten auftreten können. Haben sie sich diesen Überblick verschafft, können Einkäufer entscheiden, wie viel Geld sie ausgeben wollen, damit die ermittelten Risiken nicht zum Problem werden.

Entscheiden sie sich dafür, ihre Lagerbestände zu erhöhen, um Lieferengpässe zu vermeiden, muss dies nicht unbedingt zu Lasten der Liquidität gehen. „Vorausgesetzt, Unternehmen nutzen Zahlungsziele aus und setzen Instrumente des Supply Chain Finance klug ein“, empfiehlt Pucken. „Dadurch holen sie sich Liquidität von ihren Lieferanten.“ Gebundenes Kapital lasse sich so um bis zu 20 Prozent senken. „Mit diesem Geld können Unternehmen die Bestände der Vorprodukte erhöhen, bei denen verspätete Lieferungen der Produktion die größten Probleme bereiten – etwa Engpassteile, Langläufer oder Komponenten, bei denen hohe Abhängigkeiten von Lieferanten bestehen“, erklärt Pucken.

Tools für eine transparente Lieferkette

Unternehmen können Zulieferer auch bitten, größere Mengen bei ihnen einzulagern. So können sie bei Bedarf ohne Transportrisiko auf die Bestände zugreifen. Auch Investitionen in Systeme, die Transportketten digital abbilden, lohnen sich. „Wer frühzeitig weiß, wo auf dem Transportweg sich Ware befindet, kann Gegenmaßnahmen ergreifen, sobald er sieht, dass eine Lieferung zu spät ankommt“, erläutert Janis Bargsten, General Manager von Flexport in Deutschland. Einkäufer müssten dann nicht erst in dem Moment Lösungen suchen, wenn der Produktion das Material ausgeht. „Das kostet oft erheblich mehr“, so Bargsten.

„Tools, die mit ausreichend fein aufbereiteten Daten transparent machen, wann welches Material wo in welcher Menge benötigt wird und miteinbeziehen, wie lange bestimmte Transportmittel dorthin brauchen, helfen auch, den schnellsten und günstigsten Transportweg auszuwählen“, ergänzt Bargsten. So lässt sich Ware auf dem Seeweg meist sicher und günstig transportieren. Allerdings kann sich ihre Ankunft um mehrere Tage verschieben. Luftfracht ist dagegen schnell, aber teuer. Innerhalb Europas kommt eine Lieferung mit dem Zug meist pünktlicher an als mit dem Lkw. Doch müssen sich Unternehmen mit den Fahrplänen der Schienenverkehre arrangieren.

Risiko runter: Auswahl des richtigen Logistikpartners

Nach Corona müssen Unternehmen neben dem optimalen Transportmittel auch den richtigen Logistikpartner wählen. „Manch' kleinere Dienstleister werden in Folge der Pandemie wohl vom Markt verschwinden“, befürchtet Inverto-Geschäftsführer Pucken. „Deshalb sollten Einkäufer darauf achten, ob von ihnen beauftragte Speditionen von einzelnen Kunden abhängig sind, wie es um deren Zahlungsfähigkeit steht und wie groß das Insolvenzrisiko der Logistikdienstleister ist, die sie mit ihren Frachten beauftragen.“

Solche Überlegungen sind wichtiger als die Verkürzung der Lieferkette und die Suche nach lokalen und regionalen Lieferanten. „Zumal die Auswahl möglicher Zulieferer in Osteuropa bei einigen Produkten noch nicht sehr groß ist“, berichtet Pucken. So sehr sich Einkäufer dies wünschen. „Corona wird die internationale Arbeitsteilung nicht über Nacht verändern. Das wird sich unter Umständen erst mittelfristig ergeben“, erwartet Pucken. Um so dringender müssen Einkäufer daher jetzt ihr Management von Transportrisiken auf Vordermann bringen. Sonst warten sie bald wieder auf einen Lkw, der am Brenner im Stau steht.

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