Exklusiv-Interview Freudenberg

Strategien gegen Engpässe und für mehr Nachhaltigkeit

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Verlag moderne industrie @Freudenberg
Dr. Ruth Bieringer (Materialentwickung) und Boris Jakobi (Einkauf) von Freudenberg.

Dr. Ruth Bieringer und Dr. Boris Jakobi berichten, wie sich Freudenberg Sealing Technologies auf neue Dynamiken einstellt und Rohstoffalternativen frühzeitig prüft.

Versorgungsrisiken und Compliance-Anforderungen haben großen Einfluss auf Materialentwicklung und Einkauf. Dr. Ruth Bieringer und Dr. Boris Jakobi berichten, wie sich Freudenberg Sealing Technologies auf die neue Dynamik einstellt und Rohstoffalternativen frühzeitig prüft.

TECHNIK+EINKAUF: Frau Dr. Bieringer, Sie verantworten für Freudenberg Sealing Technolgies die globale Material- und Werkstoffentwicklung. Welche Berührungspunkte haben Sie zum Einkauf?

Ruth Bieringer: Wir kümmern uns um die übergreifenden Materialinnovationen. Neben der eigentlichen entwicklerischen Tätigkeit umfasst das sowohl die Materialcompliance als auch das Prozessdesign für die Regulatorik. Das ist die erste wichtige Brücke zum Einkauf. Und wir entwickeln gemeinsame Sourcing-Strategien für neue Rohstoffe und besprechen die Lieferanten- und Rohstoffauswahl.

Herr Dr. Jakobi, Ihre Division fertigt die Vorprodukte für Freudenberg Sealing Technologies. Neben der Fertigung sind Sie für den Einkauf verantwortlich. Welchen Vorteil hat die Doppelfunktion?

Boris Jakobi: Die Krisen der vergangenen Jahre verlangten schnellere Entscheidungswege und folgend flexibleres Handeln in der Fertigung der Vorprodukte. Da wir gleichzeitig den globalen Rohstoffeinkauf, die Misch-, PTFE- und Stanzwerke sowie die Werkzeugbauzentren verantworten, konnten wir die Effizienz und Resilienz unseres Unternehmens steigern. Freudenberg Sealing Technolgies hat eine große Wertschöpfungstiefe. Wir starten beispielsweise auf der Chemikalienebene für unsere Compounds und bei Stahlcoils für unsere Stanzteile. Die Fertigungstiefe hilft uns ebenso im Einkauf, da vermehrt auch Halbzeuge extern zugekauft werden müssen oder auch das Praxiswissen bei der Lieferantenbewertung und -management Anwendung findet.

Wie entstand der direkte Link von der Innovation zum Sourcing? Die Verbindung der Vorentwicklung zum Einkauf ist längst nicht in allen Firmen so eng.

Bieringer: Die Verbindung gab es schon immer, aber unsere Zusammenarbeit ist heute sehr viel intensiver. Das ist den Versorgungskrisen geschuldet, aber auch der Wandel zur E-Mobilität wirkt sich aus. Unser Portfolio hat sich in den letzten Jahren enorm verbreitert. Wir brauchen viele neue Materialien, wollen das Spektrum aber trotzdem so klein wie möglich halten. Deshalb überlegen wir frühzeitig, mit welchen Lieferanten und welchen Rohstoffen wir arbeiten. Nach welchen Kriterien wir neue Lieferanten auswählen und wer diese festlegt, das alles sind Themen, die für die Materialentwicklung zunehmend wichtiger werden.

Jakobi: Auch die Prozesse, Rollen und Verantwortlichkeiten zwischen uns haben wir neu definiert. Auf diese Weise profitieren wir viel mehr vom Wissensstand der unterschiedlichen Abteilungen. Wir bewerten für dieRohstoff- und Lieferantenauswahl von Anfang an nicht nur, ob ein Werkstoff aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften infrage kommt, sondern auch, ob und wie er beschaffbar ist.

Viele internationale Handelsbeziehungen stehen unter Druck. Wie ist die Versorgungslage für Rohstoffe und Chemikalien?

Bieringer: Die Liefersituation hat sich 2024 erst einmal beruhigt. Da ein Rohstoff jedoch in viele Compounds, die Compounds wiederum in viele Produkte und die Produkte an viele Kunden gehen, können Lieferengpässe sehr schnell groß und global werden. Für den Krisenfall haben wir aus diesem Grund klare Mandate vergeben und zentrale Teams implementiert, die dann nichts anderes tun, als für die Gesamtorganisation zu überlegen: Was muss bis wann getan werden? Auf welche Rohstoffe stellen wir in welcher Form um? Und wie läuft die Kommunikation zum Kunden, in die Geschäftsleitung und in die dezentralen Produktionseinheiten?

Dr. Ruth Bieringer @Freudenberg

Vita Dr. Ruth Bieringer

Die Chemikerin Dr. Ruth Bieringer studierte an den Universitäten Mainz, Amherst und Bayreuth. Seit 2020 leitet Bieringer die globale Materialentwicklung und Materialcompliance für Freudenberg Sealing Technologies. Für das Unternehmen ist sie seit 2000 in der Elastomer- und Kunststoffentwicklung tätig. Die Gastdozentin engagiert sich in Gremien des Verbands der Automobilindustrie, der Gesellschaft Deutscher Chemiker und der deutschen Kautschukgesellschaft.

Gelingt es Ihnen damit, unabhängiger zu werden?

Jakobi: Das streben wir kontinuierlich an, da sich Abhängigkeiten zu Märkten und Lieferanten stetig ändern. Jedoch haben wir aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahren ein gemeinschaftliches Projekt zwischen Entwicklung und Einkauf aufgesetzt, um gezielt Rohstoffe zu identifizieren, welche eine hohe Auswirkung auf das Versorgungsrisiko haben. Von diesen identifizierten Heavy Hitter wollen wir uns unabhängiger machen und suchen gezielt nach Alternativen.

Wie schnell bemerken Sie, wenn Rohstoffe knapp werden?

Jakobi: Der Trigger kommt häufig aus dem Einkauf, bevor wir tatsächlich in einem Werk mit den Lagerbeständen in einen Engpass laufen. Wir folgen mittlerweile einem Standardprozedere, prüfen zum Beispiel sofort die internen Verfügbarkeiten, starten die Arbeit in den zentralen Teams, checken die Auswirkungen auf Kunden und mögliche Alternativen. Dieses Learning in Form eines globalen Prozessstandards haben wir aus den Lieferkrisen gezogen.

Die Lieferkette für Chemikalien ist lang. Nutzen Sie Frühwarnsysteme, um die Situation besser einschätzen zu können?

Jakobi: Ja, das tun wir. Aber wir haben auch sehr viel Arbeit in die Analyse unseres Lieferantenportfolios gesteckt. Wir schauen heute nicht mehr nur auf den direkten Lieferanten. Wir schauen auch, in welcher Region er produziert und welche Vorprodukte er nutzt. Bei vielen Störungen ist nicht der Tier-1 das Problem, sondern die Vorstufen. Diese Transparenz ist besonders bei Single Sources wichtig, für die es auf dem Markt keine Alternative gibt oder die Merkmale unserer Produkte andere Rohstoffe ausschließen.

Boris Jacobi @Freudenberg

Vita Dr. Boris Jakobi

Der Maschinenbauingenieur Dr. Boris Jakobi studierte und promovierte in Mannheim, Clausthal und Stuttgart. Seit 2021 leitet er für Freudenberg Sealing Technologies die Division ‚Components & Procurement Direct Material‘. Zuvor war der Spezialist für Prozesstechnik für das Unternehmen in verschiedenen Funktionen sowohl im Einkauf als auch in der Fertigung tätig. Für Freudenberg arbeitet Jakobi seit 2002.

Was ist, wenn es an Alternativen mangelt?

Jakobi: Dann fahren wir andere Bevorratungs- und Kooperationsstrategien. Ein Beispiel, warum das wichtig ist: Für Batterien für die Elektromobilität werden bestimmte Vorprodukte benötigt, die auch in unsere Elastomer-Polymere gehen. Durch den Batterieboom waren diese Vorprodukte plötzlich nicht mehr wie zuvor verfügbar. Diese Themen müssen wir frühzeitig erkennen und den Einfluss durch unsere Lieferkettenanalysen möglichst vermeiden. Ein sehr wichtiger Baustein sind unsere vielen strategischen Partnerschaften, durch die wir gut informiert sind.

Spielen Versorgungsrisiken für die Materialentwicklung eine Rolle?

Bieringer: Wir sind Technologieführer und differenzieren uns über unser Materialportfolio. Das wächst, mit allen Herausforderungen, die damit verbunden sind. Aktuell implementieren wir in unseren Entwicklungsprozessen sehr früh Gates, bei denen wir uns diese Fragen stellen: Sind die Rohstoffe verfügbar? Gibt es Second Sources? Was ist mit der Compliance, dürfen wir die Materialien global verwenden?

Jakobi: Die größte Herausforderung sind Rohstoffe, die in sehr viele Produkte fließen. Ausschlaggebend ist das Schadensausmaß, die ein Rohstoffengpass für uns hat.

Finden Sie die immer?

Bieringer: Es gibt Rohstoffe, die sind einzigartig. Da haben die Produzenten Nischen gefunden, die sie erfolgreich besetzen. Wichtig ist, das früh zu verstehen, die Risikoabschätzung zu treffen und sich dann ehrlich zu fragen: „Wollen wir das Risiko tragen?“ Die Antwort kann durchaus „Ja“ heißen, aber das Versorgungsrisiko muss allen klar sein, auch den Kunden. Unser Vorteil ist: Wir haben eine große Rohstoffexpertise, durch die wir uns von vielen Marktbegleitern unterscheiden. Wir kennen die Märkte sehr gut und haben auch durch unsere langjährigen Partner einen guten Einblick.

Viele Polymere und Elastomere sind erdölbasiert. Welche Alternativen gibt es mit Blick auf den Scope 3?

Bieringer: Die Emissionen in unserer Lieferkette sind aufgrund der Komplexität herausfordernd. Im ersten Schritt ‚elektrifizieren‘ sich Lieferanten, stellen auf Grünstrom um und die Chemikalien werden von alleine nachhaltiger. Die Kundenanfragen zu diesem Thema nehmen zu, sind aber uneindeutig. Einerseits möchte man nachhaltige Alternativen, ist andererseits aber oftmals nicht bereit hierfür etwas mehr Geld auszugeben.

Wie wichtig ist Gremienarbeit für die Transformation?

Bieringer: Sie ist wichtig, betrifft aber nicht nur die Nachhaltigkeit von Prozessen und Produkten, sondern viele weitere Aspekte. So beschäftigen wir uns im VDA aktuell sehr intensiv mit der Frage, wann alternative Rohstoffe Kunden angezeigt werden müssen. In Bezug auf die Risiken von Änderungen brauchen wir mehr Transparenz und Hilfestellung. Jeder Rohstoffwechsel ist mit einem enormen Aufwand verbunden, nicht nur intern, sondern auch durch die Prüfung beim Kunden. Eine optimierte, von allen Seiten vertretbare Risikoabschätzung würde mit Blick auf die Versorgungssicherheit allen Beteiligten helfen.

Welche Rolle spielt die Dekarbonisierung?

Jakobi: Nachhaltigkeit ist im ganzen Unternehmen präsent, es gibt klare Ziele, auch für den Einkauf. Wir werden im Einkauf nicht nur an monetären Zielen wie beispielsweise Einsparungen gemessen, sondern auch hinsichtlich der Reduktion von CO2-Emissionen.

Wie gehen Sie mit gesetzlichen Änderungen um?

Bieringer: Neuerungen im Chemikalienrecht verfolgt unser Compliance-Team und es gibt bereichsübergreifende, zentrale Arbeitsgruppen. Wir wollen Änderungen möglichst früh antizipieren, uns über Verbandsarbeit aktiv in den Diskurs einbringen und unsere Kunden frühzeitig informieren.

Das Unternehmen: Freudenberg Sealing Technologies

... ist Technologie- und Marktführer für anspruchsvolle, neuartige Anwendungen in der Dichtungstechnik und Elektromobilität. 13.100 Mitarbeitende erwirtschafteten 2023 einen Umsatz von rund 2,6 Milliarden Euro. Die Freudenberg-Gruppe erzielte mit ihren Geschäftsfeldern Dichtungs- und Schwingungstechnik, Vliesstoffe und Filtration, Haushaltsprodukte (Vileda) sowie Spezialitäten im gleichen Jahr einen Umsatz von knapp 12 Milliarden Euro. Für die Gruppe arbeiten 52.200 Menschen in 60 Ländern.

Wie beträfe Sie ein Verbot der per- und polyfluorierten Alkylverbindungen, kurz PFAS?

Bieringer: Von dem Verbot dieser Stoffgruppe wären über 40 Prozent unserer Produkte betroffen. Wir sind Technologieführer und haben sehr viele Produkte, die nach dem heutigen Stand der Technik fluorierte Polymere brauchen. Gemeinsam mit Fraunhofer IWM haben wir zu PFAS ein Papier verfasst, in dem wir zu einer ganzheitlichen Betrachtung auffordern. Wir unterstützen selbstverständlich die Ziele der EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit, wünschen uns für die Chemikalienregulierung jedoch einen differenzierteren, risikobasierten Ansatz.

Jakobi: PFAS ist für unsere Industrie hochrelevant. Gleichzeitig ist die Gesellschaft sensibilisiert. Die Schatten des Verbots sind in der Lieferkette bereits spürbar, es gab schon vereinzelte Force Majeure, welche sich auf PFAS-Regularien zurückführen lassen. Umso wichtiger ist es, sich damit proaktiv zu beschäftigen. Unsere Verbundenheit innerhalb der Freudenberg-Gruppe und unsere Materialexpertise sind auch hier ein klarer Vorteil.

Welche Alternativen zu PFAS haben Sie?

Bieringer: Hierzu muss man verstehen, wieviel schlechter im Hochleistungsbereich das Zweitbeste ist, wenn es das Beste nicht mehr gibt. Das Bild ist vielschichtig: Wir glauben, dass man bestimmte Produkte PFAS-frei herstellen kann. Zum Beispiel, wenn die Lebensdauer einer Dichtung beim Kunden keine entscheidende Rolle spielt, weil sie in kürzeren Abständen getauscht werden kann. Allerdings gibt es auch Anwendungen und Produkte, denken Sie an große, aufwendig montierte Getriebedichtungen in Windrädern, da ist ein PFAS-Ersatz nach heutigem Erkenntnisstand nicht möglich.

Jakobi: Die technischen Alternativen, wenn es sie denn gibt, müssen in großen Volumina verfügbar sein. Und man muss die gesamte vertikale Prozesskette durchdenken. Das heißt: Können wir die neuen Rohstoffe genauso gut zu einem Compound mischen? Ist das Vorprodukt in unseren Spritzgussmaschinen verarbeitbar? Können wir die bisherigen Formgebungswerkzeuge nutzen? Nicht nur Materialentwicklung und Testing, auch Lieferanten und Fertigung brauchen für die Umstellung ausreichend Vorlauf. Insbesondere, wenn man mit kompletten Produktfamilien Neuland betritt. Trotzdem sehe ich solche Veränderungen auch als Chance, um neue attraktive Produkte anzubieten und unsere Technologieführerschaft weiter auszubauen.

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