Vom Diesel zum E-Lkw, vom Zulieferer zum strategischen Partner
Annette MühlbergerAnnetteMühlberger
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Marcus Schoenenberg, Leiter Globaler Einkauf und Lieferantenmanagement bei Daimler Truck (li.) und Rainer Müller-Finkeldei, Leiter Mercedes-Benz Trucks Product Engineering (re.).(Bild: Daimler Truck)
Wie bleibt eine Supply Chain robust, wenn sich Märkte, Technologien und Regulatorik ständig ändern? Zwei Top-Manager von Daimler Truck geben exklusive Einblicke.
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Vom Diesel zum E-Lkw, vom Zulieferer zum strategischen Partner: Wie bleibt eine Supply Chain robust, wenn sich Märkte, Technologien und Regulatorik ständig ändern? Dr. Marcus Schoenenberg, Head of Global Procurement & Supplier Management und Dr. Rainer Müller-Finkeldei, Senior Vice President Engineering Mercedes Benz Trucks, geben exklusive Einblicke.
TECHNIK+EINKAUF: Herr Schoenenberg, die globalen Handelsbeziehungen stehen an einem kritischen Punkt, E-Mobilität und alternative Antriebe verändern die Lieferketten. Was folgt daraus für die Beschaffung von Daimler Truck?
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Marcus Schoenenberg: Um wettbewerbsfähige Produkte zu entwickeln, erfordern der Technologiewandel und die Elektrifizierung von uns zusätzliche Fähigkeiten. Dafür müssen wir die richtigen Partner finden. Gerade weil wir den Transport dekarbonisieren und die branchenweite Transformation vorantreiben wollen, arbeiten wir weiter intensiv an unseren Produkten, unserer Fertigung und unseren Lieferketten. Und weil wir davon überzeugt sind, dass sich viele der Herausforderungen nur durch die konsequente Nutzung von Daten und automatisierte Prozesse bewältigen lassen, digitalisieren wir Einkauf und Lieferantenmanagement. Gleichzeitig gilt es, die Lieferketten unter zunehmend herausfordernden Bedingungen aufrecht zu halten und deren Resilienz zu erhöhen. Geopolitische Spannungen tragen dazu bei, dass wir unser Risikomanagement weiter verstärken.
Herr Müller-Finkeldei, wie geht die Technik mit den Veränderungen um?
Rainer Müller-Finkeldei: Im Zuge der Energiewende und steigender Umweltvorgaben müssen Lkw-Hersteller verstärkt in die Entwicklung elektrischer und alternativer Antriebstechnologien investieren, wie batterieelektrische und Wasserstoffantriebe. Auch Fahrzeugassistenzsystemen, Telematikdienste oder automatisierter Fahrfunktionen stellen neue Anforderungen an die Fahrzeugarchitektur und Softwareentwicklung, was eine enge Zusammenarbeit mit Technologiepartnern und eine kontinuierliche Innovationsbereitschaft erfordert. Außerdem sind die Kundenanforderungen und Erwartungshaltungen an Zero-Emission Vehicles besonders komplex, da diese zum Beispiel bei Logistik- oder Frachtunternehmen oder öffentlichen Institutionen stark variieren können. Auch Infrastruktur und Kostenparität zwischen Diesel und E-Lkw haben einen hohen Einfluss auf die weitere Strategie und Entwicklung.
Wie steuert Daimler Truck den Hochlauf der Elektromobilität in die Supply Chain ein?
Schoenenberg: Einerseits wird uns die Verbrenner-Technologie im Nutzfahrzeugsektor noch lange begleiten – dafür brauchen wir kompetente, zuverlässige Partner, die uns mit diesen Umfängen noch einige Jahrzehnte, bei perspektivisch sinkenden Volumen, zu wettbewerbsfähigen Kosten beliefern. Gleichzeitig führen wir Technologien ein, die gemessen an der 100-jährigen Historie des Verbrenners in einer frühen Phase der Entwicklung stehen und deren Hochlauf stark von äußeren Faktoren wie der Ladeinfrastruktur beeinflusst wird. Je nach Region und Produktsegment gibt es deutliche Unterschiede. Unsere Partner und wir müssen deshalb mit einem hohen Maß an Dynamik umgehen, was einen engen Austausch und eine abgestimmte Szenarienplanung erfordert.
Verändert sich dadurch auch der Charakter der Zusammenarbeit?
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Schoenenberg: Der Kreis relevanter Partner hat sich erheblich erweitert, die Formen der Zusammenarbeit werden vielfältiger. Es geht darum, Ressourcen zu bündeln, Innovationen abzusichern, an Geschwindigkeit zu gewinnen. Je nach Motivation und Projekt entstehen Partnerschaften, die weit über reguläre Kunden-Lieferanten-Beziehungen hinausgehen – bis hin zu Joint Ventures. Früher eher eindimensionale Kunden-Lieferanten-Beziehungen entwickeln sich zu breiten, belastbaren Lieferantennetzwerken.
Müller-Finkeldei: Auch unsere Lieferanten müssen ihr Know-how und Angebot weiterentwickeln. Der Fokus liegt auf modularen und vernetzten Komponenten. Erforderlich sind hohe Qualitätsstandards sowie die Fähigkeit zur schnellen Anpassung an Marktnachfragen und Produktionsänderungen. Kürzere Entwicklungszyklen müssen wir partnerschaftlich stemmen. Lieferanten müssen, ebenso wie wir, global agieren, und gleichzeitig regional angepasste Lösungen anbieten können. Hinzu kommen recycelbare und ressourcenschonende Lösungen.
(Bild: Rüdiger J. Vogel)
Vita Dr. Marcus Schoenenberg
Der Maschinenbau- und Elektroingenieur Dr. Marcus Schoenenberg startet 1995 seine Karriere bei der Daimler AG, zunächst in der Entwicklung, später in Führungspositionen in Vertrieb und Einkauf. Seit 2013 leitet er für die Lkw-Sparte, seit 2019 Daimler Truck AG, den weltweiten Einkauf und das Lieferantenmanagement.
Welche Konsequenzen ziehen Sie aus den Lieferkettenstörungen der vergangenen Jahre? Sind Sie und die Lieferanten enger zusammengerückt?
Schoenenberg: Die Lieferketten waren an manchen Stellen nicht robust genug ausgelegt, oft lag die Ursache in optimierten Lagerkapazitäten. Wir können die Resilienz steigern, indem wir spezifische Bestände erhöhen und für bestimmte Teile zu einer Dual-Source-Strategien übergehen. Das führt zwar zur Splittung des Volumens, installiert jedoch Wettbewerb und macht uns weniger anfällig für regionale Handelsbeschränkungen. Und ja, unsere Lieferanten und wir rücken enger zusammen. Unter anderem stimmen wir Bedarfe enger ab, indem wir versuchen unser Abrufverhalten zu verbessern.
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Wird Multisourcing durch die Freigabeprozesse im Automotiveumfeld erschwert?
Schoenenberg: Wenn wir Multisourcing von Anfang an vorsehen, besteht im Entwicklungsprozess die Chance, Freigabeprozesse und damit die Kosten zu optimieren. Auch während der Serienphase gibt es immer wieder Möglichkeiten, Komponenten effizient freizugeben, etwa bei einer Modellpflege – einer Überarbeitung und Aktualisierung eines bestehenden Fahrzeugmodells. Wir entscheiden das unter anderem anhand der kommerziellen Wechselbarriere, der strategischen Relevanz der Komponente, Marktverfügbarkeit, Schutzrechtesituation oder dem Ausfallrisiko. Grundsätzlich gilt: Multisourcing ist immer eine Option und wichtiges Element unseres Risikomanagements – aber immer eine Einzelfallentscheidung.
Muss sich auch das Änderungsmanagement anpassen?
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Müller-Finkeldei: Das Änderungsmanagement in der Lkw-Entwicklung muss flexibler, agiler und stärker in die frühen Entwicklungsphasen integriert werden, um Risiken frühzeitig zu erkennen und Ausfälle zu minimieren. Das bedarf einer verstärkten Zusammenarbeit mit Lieferanten und digitaler Tools.
Welche grundsätzlichen Strategien zur Risikoabsicherung verfolgt Daimler Truck?
Schoenenberg: Wir haben unsere Fähigkeit, Risiken frühzeitig zu erkennen und Absicherungsmaßnahmen zu installieren, deutlich gesteigert. Wirksames Risikomanagement erfordert eine ganzheitliche Betrachtung vieler verschiedener, für uns relevanter Risikokategorien sowie datenbasierte fundierte Entscheidungen und Konsequenzen, die wir aus der gewonnenen Transparenz ziehen. Bereits im Lieferantenauswahlprozess, also präventiv, haben wir deshalb schon risikospezifische Kriterien definiert, nach denen wir unsere Lieferanten überprüfen.
Der Informatiker Dr. Rainer Müller-Finkeldei ist seit 2010, zunächst als Leiter Entwicklung Mechatronik, für die Truck-Sparte der Daimler AG, heute Daimler Truck AG, tätig. Nach Stationen in den USA leitet er seit 2023 die Entwicklung Gesamtfahrzeug der Mercedes Benz Trucks.
Wieviel Transparenz können Sie als OEM global herstellen?
Schoenenberg: Tatsächlich ist es für globale Unternehmen eine Herausforderung, für alle Bezüge in der gesamten Lieferkette Transparenz zu erzeugen. Neben der Verpflichtung regulatorischen Anforderungen gerecht zu werden, haben wir ein großes Eigeninteresse, potenzielle Risiken frühzeitig zu erkennen und präventive Maßnahmen einzuleiten. Dazu ordnen wir unsere Teilegruppen in Risikokategorien: Je höher die Risikoeinstufung, desto mehr Informationen sammeln wir über die Lieferkette. Die Quellen hierfür reichen von der Lieferantenselbstauskunft bis hin zu Daten von spezialisierten Dienstleistern oder validierten Supply Chain Assessments. Bei einer Indikation für ein akutes Risiko gehen wir in eine Detailanalyse, legen Maßnahmen fest und kontrollieren deren Wirksamkeit.
Weil wir unsere direkten Lieferanten verpflichten, ihr Risikomanagement in ähnlicher Form anzulegen, arbeiten wir gemeinsam an der Transparenz in der Lieferkette. Wir stehen zudem in regelmäßigen Abständen im aktiven Dialog mit unseren Lieferanten, mit externen Verbänden und NGOs, um Nachhaltigkeitsthemen bei uns und bei unseren Partnern zu optimieren.
Welche Rolle spielt die digitale Vernetzung mit Lieferanten?
Schoenenberg: Die Digitalisierung von Workflows erhöht die Effizienz in der technischen Abstimmung und reduziert Fehler. Der Bedarf des Datenaustauschs nimmt deutlich zu – sowohl in der Entwicklungs- als auch in der Serienphase, zum Beispiel für Logistikdaten, Daten für das Risk Management oder zur Erfüllung regulativer Anforderungen. Standardisierte Kommunikationsplattformen ermöglichen einen datenschutzkonformen, verlässlichen Austausch zu möglichst geringen Kosten.
Inwiefern verändert die Softwareintegration in die Fahrzeuge die Zusammenarbeit?
Müller-Finkeldei: Die digitale Zusammenarbeit und die Datenintegration zwischen Herstellern und Lieferanten erfordert engere, langfristigere Partnerschaften. Lieferanten müssen nicht nur qualitativ hochwertige Bauteile liefern, sondern auch regelmäßig Softwareupdates, Wartung und Support bieten. Komponenten müssen softwareseitig über Jahre hinweg updatefähig bleiben und mit künftigen Software-Versionen kompatibel sein.
Hat das Einfluss auf Ihr Lieferantenportfolio?
Schoenenberg: Die stärkere logische Trennung von Hardware, Betriebssystem und Software-Applikationen führt zu neuen Konstellationen. Die Rechner liefern oft für Automotive-Hardware etablierte Lieferanten. Das Betriebssystem entwickeln wir teilweise gemeinsam mit einem Wettbewerber und die Applikation sind entweder Eigenentwicklungen – dann wenn wir ein hohes Differenzierungspotential sehen – oder Produkte von oft kleineren Spezialisten. Wir arbeiten gerade im Softwaresektor mit neuen Lieferanten zusammen, die wir an die Automotive-Standards heranführen müssen. Das reicht vom Entwicklungsprozess über die Systemauslegung bis hin zu hohen Anforderungen an Cyber-Security. Ein 40-Tonnen-Truck auf der Autobahn ist eben doch ein bisschen komplexer als ein Computer auf Rädern.
Daimler Truck ist einer der weltweit führenden Hersteller von Nutzfahrzeugen. Für den OEM mit Hauptsitzt in Leinfelden-Echterdingen arbeiten weltweit 104.400 Menschen. 2024 verkaufte Daimer Truck 460.409 Lkw und Busse, darunter 4.043 batteriegetriebene Fahrzeuge. Ende 2024 begann die Serienproduktion des ersten vollelektrischen Schwerlast-Lkw Mercedes-Benz eActros 600. Für das Modell liegen erste Bestellungen vor, darunter ein Großauftrag von Amazon über 200 Fahrzeuge.
Welche Ziele verfolgt Daimler Truck für die Reduktion der CO₂-Emissionen in der Supply Chain? Wie geht der Einkauf vor?
Schoenenberg: Wir werden die Emissionen von Materialien bei neuen Projekten und Vergabeentscheidungen stärker berücksichtigen und Kennzahlen wie CO2-E-Emissionen systematisch in die Geschäftsprozesse integrieren. Bereits seit mehreren Jahren generieren wir mit dem Fragebogen des Carbon Disclosure Project (CDP) Transparenz über die CO2-E-Reduktionsziele unserer wichtigsten Lieferanten. Wir haben die klare Ambition, zusammen mit unseren direkten Lieferanten bis 2039 in der Triade und bis 2050 global die CO2-E-Neutralität unserer Waren und Dienstleistungen zu erreichen. Gemeinsam entwickeln wir Konzepte, wie wir schrittweise den CO2-E-Footprint von Produkten reduzieren, vor allem bei energieintensiven Stahl- und Aluminiumprodukten, Batterien sowie diversen Kunststoffen. Wir installieren Kreislaufwirtschaft, optimieren Transport und Logistik und achten auf Ressourcenschonung.
Welche Rolle spielen zirkuläre Geschäftsmodelle?
Schoenenberg: Kreislaufwirtschaft ist ein zentrales Element unserer Nachhaltigkeitsstrategie. Dazu gehört das nachhaltige Design unserer Produkte, so dass Kreislaufwirtschaft überhaupt möglich wird, sowie ein Produktionsnetzwerk, das Kreislaufwirtschaft optimiert. Wir fokussieren uns auf Prozesse und Geschäftsmodelle, die unsere Fahrzeuge länger im Betrieb halten und durch die Teile aus dem Feld zurückgeführt werden. Nicht zuletzt brauchen wir für die Rückgewinnung und Wiederverwendung von Stoffen die richtigen Partner und Technologien – ein weiteres Kernfeld in der Strategie.
Welche digitalen Lösungen helfen Einkauf und Entwicklung im Alltag?
Schoenenberg: In der Beschaffung fokussieren wir auf die Digitalisierung der Workflows und die Überwindung von Systembrüche. Künftig unterscheiden wir stärker zwischen Teilegruppen, bei denen die Hauptaufgabe in der Administration und Prozessierung besteht, und Teilegruppen, die eine intensive crossfunktionale Arbeit erfordern und in der Regel komplex und strategisch relevant sind. In der ersten Kategorie werden wir die Automatisierung unserer Abläufe erheblich steigern.
Müller-Finkeldei: In der Entwicklung können viele Prozesse vereinfacht und automatisiert werden. Unsere zentrale Intention von Digitalisierung ist: Die Menschen von wiederkehrenden, administrativen Tätigkeiten befreien und Ressourcen für wertschöpfende Arbeit, die unmittelbar auf unsere Ziele einzahlt, freispielen. Man könnte auch sagen: Fokussieren auf Aufgaben, die nur von Menschen gelöst werden können.
Schoenenberg: Abgesehen davon hilft uns die Digitalisierung auch, die steigenden Anforderungen an die Transparenz in der Lieferkette, wie die Nachweispflicht des CO2e-Footprints und für bestimmte Rohmaterialien, umzusetzen. Diese Anforderungen sind ohne stabile, digitale Prozesse und einen entsprechenden Datenaustausch nicht zu bewältigen.
Was versprechen Sie sich von der Kollaboration Mensch und KI?
Schoenenberg: Im Rahmen unserer Digitalisierungsinitiative experimentieren wir auch mit KI-Applikationen. Uns ist bewusst, dass exzellentes Datenmanagement eine zentrale Voraussetzung darstellt, um das Potential von KI voll auszuschöpfen. Weil KI-Applikationen häufig auf heuristischen Algorithmen basieren, erfordert es in bestimmten Anwendungen – zum Beispiel im Vertragsmanagement – einen letzten Blick menschlicher Experten, um die Lösung zu finalisieren. Es zeigt sich jedoch, dass KI beim Analysieren von Daten zu erheblichen Effizienzgewinnen führen kann.
Müller-Finkeldei: In der Entwicklung kann KI große Datenmengen aus Simulationen, Tests und realen Fahrdaten analysieren, um Muster zu erkennen und Verbesserungspotenziale aufzuzeigen. KI-basierte Modelle können physische Tests durch präzisere Simulationen ersetzen oder ergänzen. So lassen sich Materialermüdung, Energieeffizienz oder das Verhalten von Fahrassistenzsystemen in virtuellen Umgebungen optimieren, bevor ein physischer Prototyp entsteht. KI kann als intelligentes Assistenzsystem für Ingenieure dienen, indem sie alternative Konstruktionsvorschläge generiert, Risiken in der Lieferkette frühzeitig erkennt oder Kosten-Nutzen-Analysen erstellt. Während KI vor allem durch Datenanalyse und Mustererkennung unterstützt, bleibt die menschliche Intelligenz entscheidend für kreative Lösungsansätze, strategische Entscheidungen und das ganzheitliche Verständnis komplexer Zusammenhänge. Wir glauben, die besten Ergebnisse werden durch eine enge Verzahnung beider Ansätze erzielt.
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