Luftaufnahme des Hafens Tianjin in China

Trotz langsamer Normalisierung der Lieferketten: Die Weltwirtschaft ordnet sich neu und Reshoring sollte in jeder Unternehmensstratetegie eine Rolle spielen. (Bild: chungking - stock.adobe.com)

Energie- und Rohstoffpreise sinken, Frachtraten und Wartezeiten in den Häfen ebenfalls. Zeit also, global zum Business as usual zurückzukehren? Besser nicht! Unternehmen, die Wert auf eine resiliente Lieferkette legen, schieben langfristige strukturelle Veränderungen an. Reshoring ist dafür eine wichtige Option.

Ikea tut es, C&A hat es getan, Infineon ebenso: Diese drei haben Lieferanten oder Produktionslinien in Europa aufgebaut. Die prominenten Beispiele sind keine Einzelfälle. Laut des Supply Chain Reports von Reuters und Maersk haben rund zwei Drittel von 368 befragten Supply Chain Manager:innen und Einkäufer:innen ihre Lieferketten seit Beginn der Pandemie verändert. Besonders energisch griffen die Branchen Elektronik & Technologie (88 Prozent) sowie Automobil, Luftfahrt und Maschinenbau (79 Prozent) durch, während die Chemische Industrie zurückhaltender agierte (44 Prozent). Ist das also der Start des großen Decoupling der Wirtschaftsblöcke?

Lieferanten und Produktion rücken näher zusammen

Nein. Eine tiefere Analyse zeigt, dass Unternehmen branchenübergreifend zwar Lieferanten näher an ihren Produktionsstätten und auch ihren Kundenmärkten suchen. Jedoch bedeutet dies nicht, dass diese regionalen Lieferanten künftig die gesamten Bedarfe liefern. Zumeist sind sie ein zusätzlicher Partner, der in das bestehende Liefernetz integriert wird, um die Resilienz zu steigern.

So zeigte eine Studie der EU-Handelskammer in China, dass europäische Unternehmen wegen der Pandemiesituation und einer Flut neuer Regularien sehr besorgt sind. Dennoch plant nur eine Minderheit den kompletten Rückzug aus China.

Rückverlagerung steigert Resilienz und Nachhaltigkeit

Reshoring wurde durch die Pandemie vom Nischenthema zu einem starken Trend. Zu Beginn im Frühjahr und Sommer 2020 standen ausbleibende Lieferungen und explodierende Frachtraten im Vordergrund, Unternehmen mussten schnellstmöglich Ersatzpartner finden. Heute hat sich der Fokus verlagert: Wer regionale Lieferanten sucht,

  • strebt eine höhere Resilienz an,
  • verfolgt ambitionierte Nachhaltigkeitsziele,
  • möchte mit geringeren Stückzahlen und schnelleren Reaktionszeiten flexibler auf Kundenwünsche reagieren können.

CO2-Ziele durch Regionalisierung schneller erreichen

Eine kürzere Lieferkette ist in der Regel auch eine nachhaltigere Lieferkette. Zwar ist die Logistik auf dem Weg emissionsärmer zu werden als bisher, doch der Weg bis zum CO2-neutralen Transport ist noch weit. Unternehmen, die ambitionierte Dekarbonisierungsziele definiert haben, berücksichtigen dies als wichtigen Parameter in ihrem Lieferantenmanagement.

Politische Vorgaben beflügeln das Thema Nachhaltigkeit zusätzlich: Es ist absehbar, dass die Europäische Union ein Lieferkettengesetz verabschiedet, welches strenger ist als das deutsche. Lieferanten, die selbst in der EU ansässig sind, müssen diesen Regularien folgen. Für ihre Kunden wird die Kontrolle der eigenen Lieferkette dadurch erheblich einfacher.

Regulatorischer Rahmen wird enger

Bereits seit Beginn des Jahres gilt ein Regenwald-Schutzgesetz: Unternehmen müssen künftig nachweisen, dass ihre Produkte nicht mit der Abholzung des Regenwaldes im Zusammenhang stehen, andernfalls sind sie illegal. Dieses Gesetz trifft in erster Linie Lebensmittelproduzenten. Aber auch die Abnehmer von Gummi, Holzkohle, Papier oder pflanzlichen Ölen für die Nutzung in Industrie- und Konsumgütern sollten ihre Lieferketten dringend überprüfen. Regionale Anbieter können in einigen Bereichen nachhaltigere Alternativen darstellen.

Flexibel auf Kundenwünsche eingehen dank schnellerer Lead Times

Schnell wechselnde Kundenbedürfnisse sind zum Beispiel im Bereich Consumer Electronics eine Herausforderung, an der Kalkulation und Vorausplanung immer wieder scheitern. Möglicherweise ist das ein wesentlicher Grund dafür, dass Unternehmen aus der Tech- und Elektrobranche in großem Umfang ihre Lieferketten restrukturiert haben. Denn Lieferanten aus der EU, Osteuropa, der Türkei oder Nordafrika sind oft flexibler als ihre asiatischen Counterparts: Die räumliche Nähe ermöglicht schnellere Reaktionszeiten. Da Transportkosten nicht so stark ins Gewicht fallen, lohnen sich kleinere Stückzahlen.

Das Risiko, dass ein innovatives Produkt entweder schnell und dauerhaft ausverkauft ist oder aber große Mengen davon im Regal verstauben, wird durch die größere Variabilität erheblich verringert. Eine Analyse der Gesamtkosten (Total Cost of Ownership) zeigt in diesem Zusammenhang oft, dass die Stückzahlen regionaler Lieferanten zwar zumeist teurer sind als bei Produzenten in Ostasien – aber das jeweilige Gesamtpaket (inkl. Transport, Umweltzertifikaten, etc.) unterscheidet sich im Preis nicht so stark wie erwartet.

Lange Wege werden zum Kostenrisiko

Um den Klimawandel zu begrenzen, müssen sich in der Logistik neue, emissionsärmere Antriebe und Treibstoffe durchsetzen. Diese sind zwar heute noch deutlich teurer als Kerosin oder herkömmlicher Schiffsdiesel. Der Preis letzterer allerdings steigt durch die zunehmend teureren CO2-Zertifikate. Und dass die Kosten für Container nicht in Stein gemeißelt sind, hat die Pandemie gezeigt, in der Tarife für Standardcontainer plötzlich fünf- bis siebenmal höher lagen als vorher.

Zurzeit liegen die Kosten nur knapp über dem Preis von 2019, und durch die allgemeine Kaufzurückhaltung gibt es auch genügend Kapazitäten. Das Grundvertrauen, dass Waren jederzeit günstig und pünktlich verschifft werden können, ist jedoch nach zweieinhalb Jahren mit Lockdowns, Unfällen (Suez-Kanal) und kriegsbedingten Seeblockaden verloren.  

Resilienz und Nachhaltigkeit kosten Geld

Die Globalisierung war keinesfalls ein Irrweg. Sie ermöglichte steigenden Wohlstand, Aufstieg und Bildungschancen für Menschen in ehemaligen Entwicklungsländern und den Bürgern in den Industriestaaten günstige Produkte. Deswegen ist es auch nicht sinnvoll, die internationale Arbeitsteilung komplett zurückzudrehen. Sie sollte aber neu justiert werden: ESG-Kriterien sollten einbezogen werden, um die negativen Folgen wie Klima- und Umweltschäden oder Ausbeutung in den Griff zu bekommen. Ein breiter aufgestelltes Liefernetz mit verschiedenen – auch regionalen – Lieferanten wiederum ermöglicht die Absicherung gegen Lieferrisiken.

Der Weg hin zu mehr Resilienz, Diversifizierung und zur Einhaltung von ESG-Kriterien kostet Zeit und Geld: Neue Lieferanten müssen aufgebaut, neue Kontrollprozesse aufgesetzt, Investitionen in neue Produktionsstandorte und Transportwege getätigt werden. Langfristig aber können sich Kostenstrukturen etablieren, die nicht zwangsläufig signifikant teurer als heute sind – zumal das World Economic Forum in seinem aktuellen „Global Risk Report“ darauf hinweist, dass die Welt sich ein Scheitern nicht leisten kann.

Auf regionale Lieferanten umsteigen? Vier Handlungsempfehlungen

  1. Schaffen Sie Transparenz über die Lieferketten bis hin zu den Rohstoffen als Basis für Ihre Entscheidung.
  2. Erstellen Sie Risikoprofile für Ihre Produktgruppen. Je relevanter Vorprodukte sind und je höher das Risikopotenzial, desto sinnvoller ist die Einbindung regionaler Lieferanten.
  3. Beziehen Sie Lieferwege, Transportmittel und -kosten in Ihre Entscheidungsfindung ein. Orientieren Sie sich nicht nur am Ist-Zustand, sondern berücksichtigen Sie auch Entwicklungsoptionen.
  4. Entwickeln Sie realistische Szenarien, zum Beispiel:
    • Der Zertifikatehandel verteuert Logistikkosten
    • Anforderungen an Nachhaltigkeit steigen
    • Geopolitische Spannungen führen zu Anpassungsbedarf

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