Wie sollen Einkäufer mittelständischer Betrieb Licht in ihre Lieferkette bringen? Vor allem in Ländern wie China ist dies keine Kleinigkeit. EcoVadis hat in der Volksrepublik mehr als 15.000 Lieferanten durchleuchtet. Tanja Reilly, Senior Strategic Business Development Manager der auf Nachhaltigkeit spezialisierten Ratingagentur berichtet, wie sie und ihre Kollegen dabei vorgehen.
TECHNIK+EINKAUF: Seit Jahresbeginn müssen Unternehmen mit 1.000 Mitarbeitern oder mehr das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz erfüllen. Die Einkäufer in diesen mittelständischen Betrieben fordert das massiv heraus. Vor allem, wenn es darum geht Lieferanten in Ländern wie China zu analysieren und zu bewerten. Wie gehen Sie an diese Aufgabe heran?
Tanja Reilly: Wenn uns ein Kunde damit beauftragt, einen bestimmten Lieferanten beispielsweise in China zu raten, schreiben wir dieses Unternehmen an. Wenn es mit dem Rating einverstanden ist, bitten wir es zunächst darum, uns auf unserer Plattform grundlegende Angaben etwa zur Zahl seiner Mitarbeitenden oder seiner Branche zu machen. Im nächsten Schritt schicken wir ihm einen Fragebogen, mit dem wir gezielt Informationen zu Umwelt- und Arbeitsschutzthemen abfragen, die in der entsprechenden Branche von Bedeutung sind.
Woher wissen Sie, welche Schmerzpunkte das sein könnten?
Reilly: Wir orientieren uns an Gesetzen, die für die entsprechende Branche relevant sind und an internationalen sowie branchenspezifischen Standards. Das setzt Branchenkenntnis voraus. Mit dieser können wir mit dem Fragebogen aber gezielt danach fragen, welche Policies Lieferanten etwa beim Umweltschutz, Sozialstandards oder der Bezahlung ihrer Mitarbeitenden verfolgen, mit welchen Maßnahmen sie diese umsetzen und welche Ergebnisse sie damit erreicht haben.
Müssen Unternehmen, die Sie raten, das irgendwie nachweisen?
Reilly: Selbstverständlich. Wir bitten die Betriebe, uns auf unserer Plattform Nachweise zu all diesen drei Bereichen zur Verfügung zu stellen. Das können beispielsweise Zertifizierungen oder Dokumente zu den Managementsystemen sein, mit denen sie Prozesse im Umweltschutz oder der Führung von Mitarbeitenden regeln. Auch Berichte zur Corporate Social Responsibility oder das Ergebnis eines Audits, das bei ihnen vor Ort durchgeführt wurde, sind für uns von Interesse.
Haben Berichte von Audits im Rahmen des Bildes, das Sie von einem Lieferanten erstellen, eine besonders große Aussagekraft?
Reilly: Machen wir uns nichts vor. Auch On-Site-Audits sind anfällig für Korruption. Da bekomme ich nicht immer das zu sehen, was ich sehen möchte. Niemand kann mir daher garantieren, dass in einem Betrieb keine Kinderarbeit stattfindet, nur weil ich dort keine gesehen habe. Dieses Problem gibt es aber in jedem Schwellenland – nicht nur in China.
Wie zuverlässig sind im Allgemeinen die Informationen, die Sie im Zuge eines Ratingverfahrens bekommen?
Reilly: Selbstverständlich bekommen wir immer wieder mal Plagiate beispielsweise von Zertifikaten oder auch Dokumente mit abgelaufener Gültigkeit. Um so etwas zu entdecken, lassen wir Analysetools über die Dokumente laufen, die wir erhalten. Diese erkennen an bestimmten Merkmalen, ob eine Vorlage kopiert wurde, oder ob es die Stelle überhaupt gibt, die ein Zertifikat angeblich ausgestellt hat.
Außerdem haben wir über 500 erfahrene Analysten und Analystinnen, die Dokumente in der Originalsprache lesen und bewerten. Die Nachweise, die wir bekommen, prüfen wir also mit mehreren Verfahren.
Tanja Reilly
Tanja Reilly ist Senior Business Development Managerin und Expertin für nachhaltige Beschaffung bei EcoVadis und verantwortet die DACH Region. EcoVadis ist eine Ratingagentur zur Bewertung der Nachhaltigkeitsperformance internationaler Geschäftspartner. Aus Ihren vorherigen Tätigkeiten bringt Frau Reilly langjährige und internationale Erfahrung im Compliance-Umfeld und in SAP Implementierungsprojekten mit. Zusätzlich hält sie regelmäßig Vorträge und führt Workshops zum Thema Nachhaltige Beschaffung durch.
Was fließt neben diesen Dokumenten noch in die Analyse und Bewertung eines Zulieferers ein?
Reilly: In dem Moment, in dem die Unterlagen bei uns eingehen, starten wir zusätzlich ein 360-Grad-Screening des jeweiligen Unternehmens. Diese Rundum-Analyse läuft ab diesem Zeitpunkt jeden Tag. Denn ein Betrieb kann die besten Managementsysteme implementiert haben. In einer Krise, bei einem besonders schweren Unfall in der Produktion oder einer Naturkatastrophe können diese trotzdem nicht greifen, so dass ich als Einkauf bei einem Kunden dieses Unternehmens aktiv werden muss.
Worauf bauen Sie Ihre Rundum-Analyse des Lieferanten auf?
Reilly: Wir nutzen dabei über 100.000 verschiedene Datenquellen, in denen wir auf positive wie negative Meldungen zu einem Unternehmen achten. Wir sind beispielsweise an die Datenbanken von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Anbietern angebunden, die die Compliance von Unternehmen untersuchen. Wir crawlen die internationale Presse und nutzen Ulula, einen Dienstleister, der Stimmen von Arbeitnehmenden und Kommunen zu Unternehmen sammelt.
All diese Informationen nutzen wir, um aus einer Vielzahl von Puzzle-Stücken ein möglichst vollständiges Bild eines Lieferanten zu erstellen.
Was passiert, wenn Sie im Zuge Ihres Ratings feststellen, dass ein Lieferant Zertifizierungen fälscht, Gift in den Fluss hinterm Haus kippt oder Kinder für sich arbeiten lässt?
Reilly: Dann ändern wir den Score des entsprechenden Unternehmens und informieren unseren Kunden. Denn selbst wenn wir für diesen ein vollständiges Bild seines Zulieferers erstellen könnten, müssen seine Einkäufer und Einkäuferinnen im Rahmen ihres Risikomanagements die Informationen selbst bewerten und gewichten, die wir für sie ermitteln. Sie müssen entscheiden, mit welchen Schwachstellen des Lieferanten sie leben können und wo sie den Dialog suchen oder Maßnahmen einleiten wollen. Wir können mit unserem Rating nur das Starter-Kit für diesen Prozess liefern.
Wie reagieren chinesische Unternehmen Ihrer Erfahrung nach auf Forderungen oder Bitten deutscher Kunden, ihre Maßnahmen für den Umweltschutz zu intensivieren oder ihre Arbeitnehmer besser zu behandeln?
Reilly: China ist in Sachen Nachhaltigkeit nicht das Entwicklungsland, als das wir es gerne sehen. Da sind wir in Deutschland manchmal rückständiger. Die Volksrepublik hat ein großes Eigeninteresse daran, Luft und Wasser zu schützen. Behörden und Politik ist es dort nicht egal, unter welchen Bedingungen ihre Mitbürger und -bürgerinnen leben. Selbstverständlich befinden sich daher auch chinesische Lieferanten nicht in einer dauerhaften Abwehrhaltung, wenn europäische Kunden mit ESG-Anliegen an sie herantreten. Eher im Gegenteil! Während manche deutschen Betriebe gerne darüber klagen, wenn sie zusätzlichen Aufwand leisten sollen, machen sich asiatische Unternehmen an die Arbeit, wenn sie verstanden haben, warum diese nötig ist. Manchmal entstehen so vollkommen unerwartete Win-Win-Situationen.
Was meinen Sie damit?
Reilly: Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen. Wir haben für einen Konzern drei Lieferanten in China geratet. Dabei kamen Schwachstellen im Bereich Arbeits- und Menschenrechte zu Tage. Unser Kunde war aber auf eines dieser Unternehmen als Rohstofflieferant angewiesen und entschied sich, einen Plan zur Verbesserung der Sozialstandards in dem Betrieb zu entwickeln und ihm sein Konzept vorzuschlagen. Dieses sah auch monetäre Anreize vor. Der Zulieferer erklärte sich daher bereit, den Plan umzusetzen. Dann geschah etwas, das keine Seite erwartet hatte.
Da Arbeiter in China recht gut über Apps miteinander vernetzt sind, sprach sich herum, dass sich die Arbeitsbedingungen in dem Unternehmen deutlich verbessert hatten. Deshalb wollten mehr Arbeitnehmer längere Zeit bei diesem Arbeitgeber bleiben. Folglich ging die Zahl der Wanderarbeiter und Wanderarbeiterinnen, die er beschäftigte, zurück. Das wiederum führte dazu, dass die Zahl der Reklamationen durch den deutschen Kunden sank, weil die Qualität der Produkte des Zulieferers stieg.
Dennoch: Hat es der Einkäufer oder die Einkäuferin eines kleineren mittelständischen Unternehmens bei seinem Anteil am Umsatz eines chinesischen Lieferanten nicht schwer, diesen zu bewegen, sich in Sachen Nachhaltigkeit besser aufzustellen?
Reilly: Sicher. Deshalb glaube ich, dass Brancheninitiativen wie sie zum Beispiel die deutsche Automobil-, Chemie- und Eisenbahn-Industrie verfolgen, ein sehr überzeugender Hebel sind.
Weshalb?
Reilly: Wenn Einkäufer und Einkäuferinnen aus einer Branche feststellen, dass sie einen Overlap von 80 Prozent ihrer Lieferanten haben und sich darauf einigen, gemeinsam und nach einem branchenweiten Standard an diese Zulieferer heranzutreten, entfaltet das bei diesen mehr Wirkung, als wenn nur ein einzelnes Unternehmen diesen Druck ausübt. Zudem muss sich jeder Lieferant dann nur einmal anpassen, um auf die Anforderungen einer Vielzahl von Kunden reagieren zu können. Wenn sich Zulieferer im ESG-Bereich dann besser aufstellen, weil ein umsatzstarker Kunde aus der Branche das wünscht, profitieren davon automatisch auch kleinere Betriebe. So helfen Brancheninitiativen Unternehmen, die nicht über so viel Manpower oder Nachfragemacht verfügen wie größere Betriebe.
Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) soll im Sinne des Bürokratieabbaus abgeschwächt werden, im Rahmen der Einigung auf einen neuen Bundeshaushalt sollen die Berichtspflichten vorerst entfallen. Halten Sie das für den richtigen Schritt?
Die Abschwächung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes schafft bei vielen Unternehmen große Verunsicherung und hat eine dekonstruktive Signalwirkung an diejenigen, die Ressourcen, Finanzen und Engagement in die Vorbereitung und Umsetzung investiert haben. Die Europäische Lieferkettenrichtlinie CSDDD kommt und die Corportate Sustainability Reporting Directive CSRD nimmt bereits auch kleinere Unternehmen in die Berichtspflicht bei Lieferkettenthemen. Es ist im ureigensten Interesse der Unternehmen, die Risiken in ihrer Lieferkette zu kennen, unabhängig davon, ob und wie umfangreich Sorgfalts- und Berichtpflichten bestehen.
Aber die Bürokratie macht Unternehmen trotzdem zu schaffen.
Es geht nicht darum, den Unternehmen aus Prinzip möglichst viele Prozesse aufzuerlegen, sondern die Mehrwerte nachhaltiger Lieferketten für Arbeits- und Menschenrechte, die Umwelt und das eigene Unternehmen zu nutzen. Es ist verständlich, dass Unternehmen neue Sorgfalts- und Berichtspflichten im ersten Schritt als zusätzliche Bürokratie und Kostenfaktor ansehen, aber diejenigen, die darüber hinausblicken, werden die Vorteile ihr Unternehmen erkennen.
Welche Vorteile sind das konkret?
Viele unserer Kunden haben bereits vor dem LkSG begonnen, ihre Lieferketten nachhaltiger zu gestalten und Risiken zu mindern, und konnten dadurch neue Geschäftsbereiche aufbauen, sind resilienter und arbeiten oftmals kosteneffizienter.
Wir danken Ihnen für dieses Gespräch, Frau Reilly.
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