Lieferketten auf dem Prüfstand

Zollrisiken intelligent steuern

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Zölle und Handelskonflikte stören Lieferketten.
Zölle und Handelskonflikte stören Lieferketten.

Handelskonflikte und politische Eingriffe setzen Lieferketten unter Druck mit Auswirkungen auf die Kennzahlen von Unternehmen. Wie gegensteuern?

Handelskonflikte, Zölle und politische Eingriffe setzen etablierte Lieferketten zunehmend unter Druck mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Kernkennzahlen jedes Unternehmens – und das nicht nur temporär. Insbesondere die wirtschaftlichen Spannungen zwischen den USA, Europa und China führen zu erheblichen Preisverzerrungen, gestörten Warenflüssen und einer wachsenden Unsicherheit auf den Beschaffungsmärkten. Zölle von teilweise bis zu 50 Prozent auf europäische Industrieexporte sind längst keine hypothetische Drohkulisse mehr, sondern Teil einer Realität, die den Einkauf vor grundlegend neue Aufgaben stellt.

Für Vorstände und CFOs wird spätestens mit dieser Entwicklung klar, dass der Einkauf kein operatives Kostenfeld ist, sondern ein strategischer Risikofaktor und zugleich ein zentraler Werttreiber.

Gerade hier liegt die Chance: Der Einkauf kann und muss sich als Business Partner des Boards und Architekt der Unternehmensresilienz neu positionieren. Wer Risiken nicht nur abwehrt, sondern Lieferketten aktiv resilient gestaltet, sichert einerseits stabile EBIT-Margen und planbare Cashflows, sondern und verschafft dem Unternehmen andererseits auch einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil. Resilienz ist damit nicht bloß ein Schutzschild gegen geopolitische Turbulenzen, sondern eine strategische Ressource, die Wachstum, Verlässlichkeit und Zukunftsfähigkeit ermöglicht. Wer seine Einkaufsstrategie entsprechend weiterentwickelt, kann drohende Zollkosten abfedern und sich im internationalen Wettbewerb gezielt Vorteile verschaffen.

Strategische Risiken erkennen

Der erste Schritt zur Neuausrichtung liegt in der Schaffung von Transparenz. Effektives Risikomanagement im Einkauf setzt heute voraus, dass Unternehmen genau wissen, welche Produkte, Lieferanten und Warengruppen in welchem Umfang von Zöllen betroffen sind. Klassische Methoden stoßen hier schnell an ihre Grenzen. Stattdessen kommen zunehmend KI-gestützte Tools zum Einsatz, die auf Basis von ERP- und Zolldaten die eigene Exposition präzise analysieren können, bis auf die Ebene einzelner HS-Codes und Ursprungsregelungen. Das erlaubt nicht nur eine realistische Bewertung des finanziellen Risikos, sondern auch eine Priorisierung kritischer Güter und Lieferbeziehungen.

Besonders leistungsfähig sind digitale Lösungen, die neben der Analyse auch Szenarien simulieren: Wie verändert sich die Marge, wenn auf bestimmte Produkte 25 Prozent Zoll erhoben werden? Welche Alternativen stehen bereit – und zu welchen Bedingungen? Moderne Analyse- und Simulationslösungen machen diese Zusammenhänge heute transparent und steuerbar. Wer solche Instrumente frühzeitig einsetzt, verschafft sich die nötige Agilität, um strategisch zu handeln – bevor politische Entscheidungen zu wirtschaftlichen Tatsachen werden.

Operative Agilität als Brücke zur Stabilität

Doch Analyse allein genügt nicht. Wenn neue Zölle kurzfristig eingeführt oder bestehende Handelsbedingungen abrupt verändert werden, zählt vor allem eines: Handlungsfähigkeit. Einkaufsverantwortliche, die ihre Risikoposition kennen, müssen schnell reagieren können, sowohl im Hinblick auf laufende Verträge als auch auf bestehende Lieferantenbeziehungen. In der Praxis heißt das: Preis- und Mengenvereinbarungen müssen überprüft, Incoterms angepasst und Verhandlungen mit Lieferanten, Distributoren und Logistikdienstleistern geführt werden. Ziel ist es, den Zollaufwand möglichst gleichmäßig zu verteilen oder durch alternative Bezugsquellen zu umgehen, etwa durch Ausweichen auf Produktionsstandorte in Drittländern mit vorteilhafterem Handelsstatus.

Parallel dazu stellt sich die Frage nach der Weitergabe von Mehrkosten an Kunden. Dies ist ein sensibler Prozess, der Einkauf, Vertrieb und Controlling gleichermaßen fordert. Unternehmen, die frühzeitig interne Entscheidungswege klären und klare Rollenverteilungen definieren, können schneller agieren, wenn Handelsbedingungen sich ändern. Kurzfristige Maßnahmen allein lösen zwar keine strukturellen Probleme, doch sie verschaffen wertvolle Zeit, um mittelfristig robustere Lösungen zu entwickeln.

Mittelfristig denken – Handelsabkommen gezielt nutzen

Gerade mittelfristig eröffnen sich Spielräume für grundlegende Weichenstellungen. Ein zentraler Hebel ist die gezielte Nutzung internationaler Handelsabkommen. Wer Produktions- oder Lieferströme über Länder mit günstigeren Zollbedingungen lenkt, kann Zollbelastungen signifikant senken oder ganz vermeiden. Besonders relevant sind dabei Standorte in Mexiko, Kanada oder Südostasien, die entweder durch Freihandelsabkommen mit den USA begünstigt sind oder sich als strategische Alternativen zu China und Europa positionieren. Auch innerhalb Europas bietet das bestehende Netzwerk an Handelsabkommen – etwa mit Mercosur oder Südkorea – Spielraum für den Aufbau neuer Beschaffungsquellen.

Ergänzend dazu kann der Aufbau von Joint Ventures oder Partnerschaften mit Unternehmen in Drittstaaten ein sinnvoller Weg sein, um Marktpräsenz trotz Zollbarrieren aufrechtzuerhalten, sei es durch lokale Montage, Zwischenveredelung oder flexible Re-Routing-Konzepte. Erfolgreiche Beispiele zeigen, dass es möglich ist, Lieferketten neu zu konfigurieren, ohne Effizienz oder Qualitätsstandards zu gefährden. Voraussetzung dafür ist eine strategische Bewertung möglicher Partnerländer hinsichtlich politischer Stabilität, regulatorischer Verlässlichkeit und logistischer Anbindung. Wer frühzeitig handelt, sichert sich nicht nur Kostenvorteile, sondern auch Flexibilität für künftige Entwicklungen.

Energie-Einkauf: Beschaffungsstrategien, Photovoltaik, Industriewärmepumpen

Precision Industrial Flow Meter: Advanced Liquid Measurement Technology for Accurate Control and Engineering Efficiency

Energiebeschaffung ist zur Herausforderung für Einkäufer geworden. Welche Strategien für den Einkauf von Strom und Gas gibt es und welche ist für welches Unternehmen geeignet? Welche Vor- und Nachteile die Eigenerzeugung von Strom mit Photovoltaik hat, und warum Wärmepumpen auch für die Industrie eine echte Alternative sind, erfahren Sie in unserem Schwerpunkt zur Energiebeschaffung.

Außerdem finden Sie Informationen zu Erdgas, dem nach wie vor wichtigsten Energieträger und Rohstoff der Industrie. Mindestens ebenso wichtig bei der Dekarbonisierung ist ein Energiemanagement, das den Verbrauch der beschafften Energie effizient gestaltet.

Strategisch regionalisieren

Langfristig steht der Einkauf vor der zentralen Frage, wie sich Lieferketten so aufstellen lassen, dass geopolitische Risiken nicht zur Dauerbelastung werden. Der Aufbau resilienter Strukturen erfordert deshalb mehr als nur taktische Maßnahmen. Im Zentrum steht die geografische und strukturelle Diversifikation von Bezugsquellen: Wer heute ausschließlich auf US-, EU- oder China-zentrierte Lieferketten setzt, läuft Gefahr, morgen handlungsunfähig zu sein. Dual- oder Multi-Sourcing-Strategien bieten hier die Möglichkeit, Abhängigkeiten zu reduzieren und die Versorgungssicherheit nachhaltig zu erhöhen.

Ein zentraler Baustein langfristiger Resilienz ist dabei das Nearshoring – also die Verlagerung von Produktions- und Beschaffungsprozessen in geografische Nähe zum Absatzmarkt. Für europäische Unternehmen gewinnen dabei Standorte in Mittel- und Osteuropa, aber auch in Nordafrika zunehmend an Bedeutung. Parallel investieren viele US-orientierte Unternehmen gezielt in eigene Fertigungskapazitäten in Nordamerika, um dortigen Handelsbarrieren zu entgehen. Dieser Trend ist kein Rückfall in Protektionismus, sondern Ausdruck eines pragmatischen Strategiewechsels hin zu mehr Flexibilität, kürzeren Wegen und geringerer geopolitischer Exponiertheit.

Vom Einkäufer zum Risikomanager

Die Herausforderungen, die mit einer sich wandelnden Handelslandschaft einhergehen, betreffen nicht nur Strukturen, sondern auch Kompetenzen. Der Einkauf steht vor einem grundlegenden Rollenwandel: vom reinen Kostenoptimierer hin zum strategischen Gestalter und Risikomanager. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, müssen Einkaufsorganisationen Know-how in Bereichen aufbauen, die bislang eher Randthemen waren – darunter internationale Handelsrechtssysteme, Zolltarifierung, Ursprungskalkulation, Präferenzabkommen sowie globale Steuer- und Sanktionsregelungen. Parallel steigt der Bedarf an datengetriebenem Arbeiten: Nur wer in der Lage ist, externe Signale mit internen Analysen zu verbinden, kann fundierte Entscheidungen treffen und zukunftsfähige Strategien entwickeln.

Neben den fachlichen Anforderungen verändert sich auch die Arbeitsweise im Einkauf. In einem Umfeld, in dem politische Entscheidungen unmittelbare wirtschaftliche Auswirkungen haben, ist funktionsübergreifende Zusammenarbeit essenziell. Einkauf, Vertrieb, Finance, Legal und Logistik müssen gemeinsam an der Weiterentwicklung der Lieferkettenstrategie arbeiten – agil, vernetzt und auf der Basis klar definierter Prozesse. Auch die Governance muss mitwachsen: Ein professionelles Zoll- und Compliance-Management ist heute keine Option mehr, sondern Grundvoraussetzung, um regulatorische Risiken zu kontrollieren und handlungsfähig zu bleiben. Unternehmen, die diesen Kulturwandel frühzeitig gestalten, verschaffen sich einen klaren Vorsprung in einem Marktumfeld, das mehr denn je strategisches Denken erfordert.

Zölle als Chance zur strategischen Neuausrichtung

Die Rückkehr handelspolitischer Barrieren zwingt Einkaufsorganisationen zum Umdenken – und bietet zugleich die Chance, den Einkauf strukturell zu stärken. Wer Transparenz schafft, internationale Rahmenbedingungen versteht, regional diversifiziert und strategische Fähigkeiten aufbaut, macht sich weniger anfällig für kurzfristige politische Wendungen.

Jetzt gilt es, den Einkauf als strategischen Hebel und integralen Bestandteil der Unternehmensführung zu verankern. Die nächsten Jahre versprechen keine Stabilität, wohl aber die Möglichkeit, durch kluge Weichenstellungen gestärkt aus der Unsicherheit hervorzugehen.

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