Weil er die vielen aktuellen Krisen für Betriebe beherrschbar macht, wird der Einkauf zur vitalen Unternehmensfunktion. Um das leisten zu können, braucht er digitale Hilfsmittel und ein durchdachtes Risikomanagement. Dieses braucht auch, wer seine Beschaffung auf Nachhaltigkeit ausrichtet. Betriebe schlagen so zwei Fliegen mit einer Klappe.
Die Zukunft von Northvolt entscheidet sich auf einem Acker westlich von Heide in Schleswig-Holstein. In Sichtweite eines gewaltigen Windparks entsteht dort auf 110 Hektar die dritte Gigafactory des schwedischen Batteriezellfabrikanten. Sie soll 2026 in Betrieb gehen und drei Jahre später Akkus für eine Million Elektrofahrzeuge herstellen. Rund 4,5 Milliarden Euro lässt sich Northvolt das Werk kosten. „Etwa doppelt so viel Kapital fließt zusätzlich in den Aufbau der Lieferkette“, berichtet Alexander Streif, Vice President Supply Chain Management bei Northvolt.
Die Finanzierung ihrer Fabriken bauen die Schweden neben öffentlichen Förderungen oft auf Abnahmeverträgen mit Großkunden aus der Automobilindustrie auf. Jede Gigafactory muss daher absolut sicher liefern können. Das Management ihrer Lieferketten wird für Northvolt so zum entscheidenden Erfolgsfaktor – auch in Heide.
Die Supply Chain der Batteriewerke muss daher sicher und resilient sein. Zugleich steht Northvolt in einem harten Wettbewerb mit chinesischen Herstellern und unter enormem Kostendruck. „Die Preise für Batterien werden künftig jedes Jahr um rund zwölf Prozent sinken“, erklärt Streif. Dennoch erwarten Kunden, dass die Batterie für ihr Elektrofahrzeug nachhaltig hergestellt wird. „Einen Preisaufschlag dafür, dass wir nachhaltig produzieren, gibt es aber nicht“, so Streif.
Einkauf war gestern, heute heißt die Abteilung Riskmanagement-Center
Er und seine Kollegen im Einkauf müssen diese teils gegensätzlichen Zielsetzungen erreichen und damit einen Spagat meistern. „Das gelingt uns nur, wenn wir so tief wie möglich in die Lieferkette blicken und möglichst früh erkennen, wo es gegebenenfalls Risiken gibt“, fasst Streif zusammen.
Wie er sehen das sieben von zehn Einkäufern. In einer Umfrage der Einkaufsberatung INVERTO gaben sie an, dass die Absicherung ihres Unternehmens gegen allgemeine Risiken für sie als Einkäufer oberste Priorität hat. Diese Risiken haben sich seit der Corona-Krise und den von ihr ausgelösten Unterbrechungen der Liefer- und Transportketten, im Zuge der Rohstoffknappheit und des Krieges in der Ukraine sowie den als Ergebnis der geo- und technologiepolitischen Spannungen zwischen den USA, der EU und China zunehmenden Ex- und Importbeschränkungen, neuen Zöllen und immer unübersichtlicheren Standards multipliziert.
Hinzu kommen gesetzliche Vorgaben wie das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz oder die Carbon-Border-Adjustment-Tax der EU. Daneben steht bei sechs von zehn Einkäufern der Beitrag, den ihre Abteilung leistet, damit ihr Unternehmen seine Nachhaltigkeitsziele erreichen kann, ganz oben auf der Agenda.
Die gleiche Mannschaft stemmt heute mehr Aufgaben
„Vor diesem Hintergrund hat der Einkauf für Unternehmen eine vitale Bedeutung gewonnen. Er sichert nicht nur ihre Produktions- und Lieferfähigkeit ab, was durch die Vielzahl der Krisen immer schwieriger wird. Der Einkauf kann Unternehmen vor Reputationsschäden und teuren Verstößen gegen Compliance-Vorschriften bewahren, weil er Einblick darin hat, wie ihre Zulieferer es mit dem Umweltschutz, mit Sozialstandards und mit der Unternehmensführung halten“, beschreibt Jan-Hendrik Sohn die Situation. Er ist Vice President für Deutschland, Österreich und die Schweiz sowie Mittel- und Osteuropa bei Ivalua. Das US-französische Unternehmen entwickelt Plattform- und Softwarelösungen für die Beschaffung.
„Einkaufsabteilungen müssen die breitere Aufgabenstellung heute allerdings nach wie vor oft mit der gleichen Anzahl an Mitarbeitern meistern, wie zu den Zeiten, als es diese Vielzahl an Herausforderungen noch nicht gab“, ergänzt Michael Stietz, Executive Vice President Operations und langjähriger Einkaufschef des Hamburger Technologie- und Maschinenbaukonzerns Körber. Ohne digitale Hilfsmittel sei das schwierig. „Wir müssen jeden Vorgang, bei dem das möglich ist, automatisieren“, bestätigt Alexander Streif von Northvolt. Wo das mit einfachen Mitteln nicht gehe, müsse es mit Hilfe Künstlicher Intelligenz geschehen.
KI macht die Lieferkette transparent
„Die kann künftig helfen, Informationen über Lieferanten zu finden, sichtbar zu machen und Lieferketten so in ihrer Tiefe zu durchdringen. Das wird nicht mehr nur auf persönlichen Kontakten und Nachfragen beruhen“, ergänzt Jan-Hendrik Sohn von Ivalua. Möglichst viele Daten und möglichst umfassende Transparenz über ihre Supply Chain brauchen Einkäufer allerdings schon heute. Sie müssen wissen, wer, was, an welchen Standorten und unter welchen Bedingungen herstellt, welche Kapazitäten der Zulieferer frei hat, wie es um seine Termintreue und Qualität bestellt ist, welche Emissionen in seiner Fertigung entstehen, welche Konditionen sie mit ihm ausgehandelt haben und wer eventuell wo als Alternative zur Verfügung stünde. Sie brauchen zudem Transparenz darüber, wie Vorprodukte transportiert werden, wo sich eine Bestellung gerade befindet, und Daten zu in ihrem Unternehmen vorhandenen Beständen, eingehenden Aufträgen und aktuellen Durchlaufzeiten.
An Daten zur Supply Chain mangelt es nicht
Verfügbar sind all diese Daten. „Anbieter von Finanzdaten zu Lieferanten, zur geopolitischen Entwicklung, Logistik oder zu Scope-3-Emissionen – also dem Co2-Footprint zugekaufter Vorprodukte und deren Transport – gibt es zuhauf“, weiß Jan-Hendrik Sohn. Je mehr dieser Datenquellen ein Unternehmen nutze, desto bessere und belastbarere Erkenntnisse bekomme es für seine Einkaufsentscheidungen.
Die unterschiedlichen Informationen müssten aber in einem System konsolidiert werden. Das leisten Plattformlösungen: „Die unterschiedlichen Inputdaten, die ein Unternehmen nutzt, können wir zu einem aggregierten Ergebnis – etwa dem Risiko- oder Nachhaltigkeitsscore eines bestimmten Lieferanten – aufbereiten“, erklärt Jan-Hendrik Sohn.
Niemand kann Einkäufern die Gewichtung von Risiken abnehmen
Die Daten selbst vergleichbar machen und ihren Aussagewert gewichten könne Software aber nicht. „Wir bieten den Unternehmen zuverlässige und vergleichbare Ergebnisse zur Nachhaltigkeitsleistung ihrer Lieferanten, wie sie diese Erkenntnisse weiterführend nutzen, kann jedoch kein Datenlieferant und -dienstleister dem Einkauf abnehmen“, ergänzt Tanja Reilly, Senior Strategic Business Development Manager beim weltweit größten Anbieter von Nachhaltigkeitsratings für Unternehmen, EcoVadis. Diese Analyse ist Bestandteil und Voraussetzung des Risikomanagements, das in der Verantwortung jedes Unternehmens und seiner Einkäufer liegt.
Jedes dritte Unternehmen erfasst und bewertet Risiken bislang jedoch nicht systematisch, so das Ergebnis der aktuellen, jährlich erstellten Risikomanagement-Studie von Inverto. Weitere zwölf Prozent der dafür Befragten konnten sich dazu nicht äußern. Das von EcoVadis und der Unternehmensberatung Accenture im Februar veröffentlichte „Sustainable Procurement Barometer 2024“ zeichnet sogar ein noch ernüchternderes Bild: Ihm zufolge hat im Schnitt nur jedes zweite befragte Unternehmen wenigstens zur Hälfte seiner Tier-1-Lieferanten alle Daten zur Verfügung, die es für sein Risikomanagement braucht. Nicht mal jeder vierte Betrieb kann das auch über seine Tier-2-Zulieferer sagen. Ganze 63 Prozent der Umfrageteilnehmer nehmen ESG-Kriterien – also Informationen zum Umweltschutz, Sozialstandards und der Unternehmensführung eines Lieferanten – daher gar nicht erst in ihr Risikomanagement auf.
Erfolgreiche Unternehmen kennen ihre Tier-3-Lieferanten
Die Risiken, die mit großen Investitionen oder der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle einhergehen, beherrschen viele Unternehmen anders als Northvolt also nicht. In der derzeit miserablen wirtschaftlichen Lage sollen ihre Einkäufer oft nach wie vor lediglich Kosten senken. Das ist weder zukunftsweisend noch zwingend.
Denn Unternehmen, die ihren Einkauf konsequent auf Nachhaltigkeit ausgerichtet und das dazu erforderliche Risikomanagement aufgebaut haben, haben nicht nur Transparenz zu wenigstens drei Viertel ihrer direkten Lieferanten, zwischen 50 und 75 Prozent ihrer Tier-2 und bis zur Hälfte ihrer Tier-3-Zulieferer, so die Untersuchung von Ecovadis und Accenture. Vier von zehn dieser Best-in-Class-Betriebe haben auch ihre Kosten gesenkt, indem sie ihre Beschaffung nachhaltig ausgerichtet haben.
Energie-Einkauf: Beschaffungsstrategien, Photovoltaik, Industriewärmepumpen
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Außerdem finden Sie Informationen zu Erdgas, dem nach wie vor wichtigsten Energieträger und Rohstoff der Industrie. Mindestens ebenso wichtig bei der Dekarbonisierung ist ein Energiemanagement, das den Verbrauch der beschafften Energie effizient gestaltet.
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